Diese Hebearbeit ist Schwerstarbeit

Wolfgang Kohlhaase zum 80. Geburtstag

  • Lesedauer: 6 Min.
Szenenfoto aus »Solo Sunny«: Renate Krößner als Ingrid »Sunny« Sommer
Szenenfoto aus »Solo Sunny«: Renate Krößner als Ingrid »Sunny« Sommer

Von Stefan Amzoll

Die Wirklichkeit ist da, wo die echten lebendigen Menschen wohnen, wo die Stadt atmet und der Schornstein raucht, die S-Bahn fährt und die Vorstadtdiele zum Tanz lädt. Wo Jungens auf der Lauer liegen und Mädchen sich fürchten. Wo die Konflikte auf den Fluren, der Straße, dem Bauplatz, den Büros nur so rumliegen. Wer sie aufzuheben suchte, der hat sich oft verhoben. Diese Hebearbeit ist für Wolfgang Kohlhaase Schwerstarbeit. Wenn das Werk des Drehbuchautors von etwas kündet, dann von seiner leidenschaftlichen Liebe zum Leben und zum Menschen. Ja, echte lebendige Menschen müssen es sein. Keine fantastischen, gewünschten, geträumten. Obwohl er auch Fantasien und Träume beschreibt und von diesen viel hält. Kohlhaase ist Realist.

Er braucht, um Genaues, Gekonntes, Wirksames zuwege zu bringen, den »anderen Blick« auf das Tun und Treiben der Menschen. Wer »Solo Sunny« von ihm und Konrad Wolf gesehen hat, der wird sich erinnern an die Sängerin Sunny (Renate Krößner), wie sie in miserablen Tanzbars ewig auf ein Solo aus ist und immer wieder in die hintere Reihe delegiert wird. Aber diese Sunny lässt nicht locker, die lässt sich nicht unterkriegen, die sucht sich die Männer aus, mit denen sie schläft, die will raus aus dem Milieu, das sie so anwidert. Wie ihr ging es vielen damals in der DDR, 1980. Die Kinos waren monatelang ausverkauft.

»Der Fall Gleiwitz« (1960/61) in der Regie Gerhard Kleins, mit dem Kohlhaase sechs Filme gemacht hat, zeigt ein Geschehnis in der Art einer Anatomie der Täuschung. Nüchtern, fast konstruktivistisch enthüllt der Film (mit der präzisen Musik von Kurt Schwaen) den fingierten Überfall auf den Sender Gleiwitz, wie sich maschinell-befehlsmäßig eine Organissationsstruktur zusammenfügt, deren Coup der Welt demonstrieren soll, dass der Angegriffene der eigentliche Angreifer sei.

Kohlhaase braucht die präzise Sicht auf die alltäglichen Beziehungen zwischen Menschen. Doch er selbst muss sie erlebt oder gesehen haben. »Sommer vorm Balkon« (2004/05) in der Regie von Andreas Dresen ist hierfür beredtes Beispiel. Der Prenzlauer Berg ist in diesem Film nicht, wie er vorfindbar ist, sondern wie der Berliner Bezirk mal war. Die aseptische Szene aus Luxusboutique, Edelkneipe, exklusiver Dachwohnung bleibt außerhalb des Blicks. Hinter dicken Altbaumauern spielt das Leben. Dort, wo einsame, unglückliche Menschen auf ein Zipfelchen Glück hoffen. Das ist Kohlhaases Realismus. Aus diesem hat er nie ein Geheimnis gemacht. Aber ein Geheimnis scheint diese Art zu sehen und zu erleben allemal. Wie sonst ist zu erklären, dass seine Arbeiten, wann immer sie entstanden, den Nerv der Zeit trafen und so eminent wirksam wurden.

Kohlhaase ist in Berlin geboren, mitten in der Weltwirtschaftskrise: eine attraktive, pulsierende, glanzvolle Stadt, und ebenso hässlich mit ihrem Elend, den unzähligen Arbeitslosen, dem Dreck. Seine Mutter erzieht Kinder und macht sauber, sein Vater ist Metaller, Reparaturschlosser. Diese Stadt ist politisch so aufgeladen wie keine andere Stadt im Reich. Als er zu laufen beginnt, marschieren die Nazis unter Polizeischutz auf Berlins Straßen. Später, als Kohlhaase Neujournalist bei der Jugendzeitung »Start« ist, kehrten Brecht, Arnold Zweig, Gerhart, Hanns Eisler und viele andere zurück. Sie entschieden sich für den Osten, wo die sowjetischen Besatzer waren. Der Krieg riss die hässlichsten Löcher und schändlichsten Trümmer quer durch die Stadt, und trotzdem ist dieser Ort Kohlhaases Welt.

Fragt man ihn danach, so fängt er zu schwärmen an. 1945 scheint für ihn das Leben wie neu gemacht. Er fühlt sich frei, ungebunden. Alles, was er erlebt, ist spannend wie nie zuvor. Er frequentiert die Kinos, sieht Streifen, die ihn hinreißen. Krimis allenthalben. Und Filme, die ihn tief berühren: Staudtes »Die Mörder sind unter uns«, Maetzigs »Rotation«. Er besucht Theater, schaut sich um in der Stadt, schreibt Feuilletons. Als er bei der DEFA Dramaturgieassistent ist, lernt er Rückkehrer kennen, die viel durchgemacht haben.

Mit dreiundzwanzig hat er seinen ersten großen Film: »Alarm im Zirkus«. Es ist Kalter Krieg. Zwei Jungs verhindern den Pferdediebstahl einer Crew aus Westberlin, die dem Osten Böses will. Ihm folgt mit »Berlin – Ecke Schönhauser« ein Streifen, der ähnliche Erfahrungen in die Kinos bringt. Wieder zwei Jungs in den Hauptrollen. Den einen gibt der untersetzte, kräftige Hans-Georg Schwill, den anderen der gleichfalls blutjunge Ekkehard Schall, freche Berliner Halbstarke beide.

1966 dreht Gerhard Klein »Berlin um die Ecke« nach dem Drehbuch von Kohlhaase. Der Film liegt lediglich im Rohschnitt vor. Er wird – wie viele andere Filme dieser Jahre, die lediglich den Blick auf reale Probleme zu schärfen suchten – per Dekret von der SED-Führungsriege unter Walter Ulbricht verboten. Ein übles Kapitel.

Kohlhaase: »Die Politik hat die Wirklichkeit abbestellt damals. Am Ende hat sie das selber viel stärker getroffen als die Filme.«

An jeder Ecke, sagt der Drehbuchautor, hätte man sich Themen aus der sozialistischen Produktion und Helden der Arbeiterklasse gewünscht. Darauf haben dann die beiden Urberliner Kohlhaase und Klein irgendwann gesagt: Na jut, kieken wa uns dit doch ma an. Sie sind in die Bude gegangen, wo der Vater Kohlhaase Reparaturschlosser war. Haben anjekiekt. Haben zu jenau anjekiekt.

»Berlin um die Ecke« verhandelt Konflikte zwischen älteren und jungen Arbeitern in einem Berliner Metallbetrieb. Kroll und Schaube, die Jungarbeiter, keineswegs Kinder von Traurigkeit, sollen auf einer Betriebsversammlung als Aktivisten ausgezeichnet werden, weil sie tüchtig gearbeitet und die Norm überboten haben. Teile der Belegschaft sehen das ganz anders und maulen rum. Dann gehen Kroll und Schaube zur Sache. Im Betrieb gehe es ungerecht zu. Kein gleicher Lohn für gleiche Arbeit werde gezahlt, Schlampereien in der Zulieferung, Stillstandzeiten usw. Der junge Dieter Mann spielt den Wortführer. Herrliche Rolle.

Das Verbot des Films kann die Schreiblust des Autors nicht stoppen. Er liefert Theaterstücke, Prosatexte und legt Hörspiele vor, das bekannteste: »Die Gründsteinvariante«, eine Geschichte, die drei Exilanten in einem Pariser Gefängnis vor Hitlers »Frankreichfeldzug« beredt werden lässt. Voll Drastik und Komik steckt »Fisch zu viert«, ein Hörspiel, das er mit Rita Zimmer macht. »Fragen an ein Foto« arbeitet Faschismus, Krieg auf, dient als Vorlage für den Film »Mama, ich lebe« in der Regie von Konrad Wolf. Zuvor entsteht mit Wolf »Ich war neunzehn«. Darin die Szene, wo der befreite KZ-Häftling von Rotarmisten auf einem Dorfplatz abgesetzt wird, wo er, von niemand weiter beachtet, an einer Pumpe hockt und sich wäscht. Er soll der Bürgermeister des Ortes werden. Die Kamera fährt zurück, gibt dem Platz immer mehr Raum, die Einstellung wird immer totaler, auch trostloser. Dazu erklingt das Lied von der »Jarama-Front« mit Ernst Busch.

Mit »Der Aufenthalt« nach Hermann Kant (Regie: Frank Beyer) sind sämtliche dieser Arbeiten Lichtblicke. Ihre Aktualität ist unschätzbar, schaut man auf die Verharmlosungswut der Nazizeit, welche heute die maßgeblichen Medien beherrscht. Solche Streifen laufen in der Regel nachts.

Wolfgang Kohlhaase ist nun achtzig. Wenn man sich »Sommer vorm Balkon« oder »Whisky mit Wodka« anschaut, beide für den Freund Andreas Dresen geschrieben, glaubt man ihm das nicht.

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