Wege in die Welt der Verwirrten

Dank einer Berliner Initiative und ihrer Gründerin finden Angehörige von Demenzkranken neuen Mut

  • Günter Queißer
  • Lesedauer: ca. 7.0 Min.

Vor fünf Jahren begann in Berlin eine kleine, engagierte Frau, eine schon lange gehegte Idee in die Tat umzusetzen. Sie gründete eine Initiative, die heute in Deutschland ihresgleichen sucht: die Alzheimer Angehörigen-Initiative (AAI).

Es war eine unbeschreiblich schwere Aufgabe, die sie sich da gestellt hatte: pflegenden Angehörigen von Demenzkranken in ihrer meist verzweifelten Situation zu helfen. Rosemarie Drenhaus-Wagner wurde in der vergangenen Woche für ihre Leistung im Wappensaal des Berliner Roten Rathauses die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik verliehen. Wie kam sie dazu, ausgerechnet die Alzheimerkrankheit zu ihrem Lebensmittelpunkt zu machen? Während ihrer Ausbildung zur staatlich anerkannten Altenpflegerin lernte Rosemarie Drenhaus-Wagner Demenzkranke in der Gruppe und bei Hausbesuchen betreuen. Der einfühlsame Umgang ihrer Lehrer mit den Demenzkranken beeindruckte sie, und sie merkte, dass auch sie einen ganz besonders guten Zugang zu den Patienten fand. In einer Tagesstätte kam sie zum ersten Mal mit Angehörigen schwer Kranker in Berührung und war tief betroffen vom Elend der Familien. Eine Veranstaltung der Volkshochschule Reinickendorf, auf der es zu einem Vulkanausbruch an Gefühlen bei pflegenden Angehörigen kam, die sich in ihrer Hilf- und Ratlosigkeit allein gelassen fühlten, wurde ihr Schlüsselerlebnis. »Da wurde mir klar«, erzählt sie, »dass beiden geholfen werden muss, den Demenzkranken und ihren Angehörigen. Da wusste ich, der Weg zum Kranken führt nur über den Angehörigen«. Pflegende Angehörige von Demenzkranken stoßen durch ihren Einsatz rund um die Uhr sehr schnell an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, geraten in die Isolierung, da sich Freunde und Verwandte meist ratlos zurückziehen. Drenhaus-Wagner: »Der pflegende Angehörige ist stets das zweite Opfer dieser Krankheit.« Sie wollte möglichst viele pflegende Angehörige erreichen, ihnen beistehen, vor allem dort, wo es bisher wenige Beratungsangebote gab - im Ostteil der Stadt. Sie bot als ehrenamtliche Mitarbeiterin der Alzheimer-Gesellschaft Berlin ihre kostenlose Beratung an und begann, im Stadtbezirk Marzahn eine Selbsthilfegruppe aufzubauen. Sie wusste: Nur in einer vertrauten Gruppe selbst Betroffener kann eine Atmosphäre entstehen, in der man bereit ist, sein gepeinigtes Gewissen offen zu legen. Damals wurde auch die Idee für das spätere Logo der AAI geboren. Rosemarie Drenhaus-Wagner erinnert sich noch an jenen Hausbesuch bei einer demenzkranken Frau, die von ihrem Ehemann gepflegt wurde: »Bei jedem meiner Besuche bringe ich Blumen mit. Auf meine Frage, was die Blumen brauchen, kommt von der Frau die Antwort: Wasser! Der Ehemann reicht mir eine dickbauchige Glasvase, die ich mit Wasser fülle. Die Frau folgt mir in die Küche und schaut mich mit dem Blumenstrauß erwartungsvoll an. Plötzlich kommt Bewegung in ihren rechten Arm und schwupp sind die Blumen im Wasser - mit den Blüten nach unten. Es sieht wunderschön aus. Stolz über diese selbstständige Leistung lächelt mich die Frau an, und ich bedanke mich herzlich bei ihr. Um ihr Selbstwertgefühl nicht weiter zu beschädigen, drehe ich erst später, in einem unbeobachteten Augenblick, die Blumen um.« So entstand das Logo der AAI: Eine Blume in der Vase, die Blüte im Wasser. Die Hausbesuche beschränkten sich bald nicht mehr auf Marzahn. Friedrichshain, Mitte, Zehlendorf kamen hinzu. Schließlich entschied die Senatsverwaltung, diese Angehörigenarbeit als Projekt zu fördern. Das war die Geburtsstunde der Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V. Heute umgibt Rosemarie Drenhaus-Wagner eine Schar engagierter Helfer; darunter Menschen, die diese Hilfe selbst einmal bis in die letzte Phase der Krankheit ihrer Nächsten in Anspruch genommen hatten und nun zurückgeben, was sie zuvor empfangen hatten: ihre reichen Erfahrungen und ihr Wissen, das sie zu Experten macht. Kein Wunder, dass auch der Vorstand der AAI fast ausschließlich aus ehemals pflegenden Angehörigen zusammengesetzt ist. Die Betreuerinnen und Betreuer zeichnet fachliche Kompetenz und hohe Motivation aus. In den Gesprächsgruppen lernen die Angehörigen vor allem eins: mit der Krankheit zu leben, statt sinnlos gegen sie anzukämpfen. Sie finden hier verständnisvolle Gesprächspartner, denen sie ihr Herz ausschütten können. Auch für die ganz individuellen Probleme werden gemeinsam Lösungen gefunden. Währenddessen müssen die Angehörigen ihre Kranken nicht allein zu Hause lassen. Sie werden im Nebenraum von erfahrenen Fachkräften in einer Krankengruppe betreut. Das geschieht sehr einfühlsam - je nach dem individuellen Krankheitsstadium und in einer oft gelösten Atmosphäre. Eine weitere Form der Hilfe ist die häusliche Entlastungsbetreuung bis zu vier Stunden. Sie verschafft Angehörigen Freiraum. Zweimal im Jahr bietet die AAI Angehörigen die Gelegenheit, zusammen mit ihren kranken Schützlingen in den Urlaub zu fahren. In Tarnewitz bei Boltenhagen an der Ostsee können sie jeweils zehn Tage lang ihren gestressten Alltag vergessen und ihre Kranken ausgebildeten Betreuern überlassen, ohne den Kontakt zu ihnen zu verlieren. So mancher bisher stumm vor sich hin dämmernde Demente lebt durch den aktivierenden Umgang und die sozialen Kontakte wieder auf. Die Angehörigen tauschen Erfahrungen aus und erhalten neue Impulse. Die bunten Abende in Boltenhagen, bei denen ein großes Bedürfnis nach Geselligkeit, Fröhlichkeit und Bewegung spürbar war, gaben den Anstoß, in Berlin-Zehlendorf monatlich zu einem Alzheimer Tanzcafé einzuladen. Es ist schon beeindrukend zu sehen, wie die vertrauten Melodien die Gesichter erhellen und entspannen, erste zaghafte Tanzschritte auf dem Parkett auslösen, wie Stimmung aufkommt, weniger Mobile am Tisch zu schunkeln beginnen. Kaum zu fassen, was Bewegung nach Musik und dieses Gefühl, in eine Gemeinschaft einbezogen zu sein, bei Demenzkranken bewirken können. Um so unsinniger erscheint die verbreitete Praxis, Demenzkranke »ruhig zu stellen«, damit sie »pflegeleichter« sind. Damit werden sie verurteilt, stumpf vor sich hinzudämmern. Die AAI bietet pflegenden Angehörigen auch an, per E-Mail Fragen zu stellen und Internet-Selbsthilfegruppen beizutreten. Zur Zeit sind in der Internet-Selbsthilfegruppe 15O Mitglieder aktiv. Beim Erfahrungsaustausch mit anderen pflegenden Angehörigen erscheinen die Defizite, die sie beim Umgang mit der Krankheit im gesellschaftlichen Umfeld erleben müssen, in neuem Licht. Man fühlt sich nicht mehr allein gelassen, macht sich Luft, sucht gemeinsam nach Auswegen. Viele haben eine lange Odyssee hinter sich, von Arzt zu Arzt, von Behörde zu Behörde. Oft kommt es zu falschen Einstufungen, wenn es um die Pflegestufe geht. Hier bietet die AAI Hilfe an, nimmt an Einstufungsgesprächen teil, bringt ihr Sachverständnis ein. Viele Familien geraten durch die steigenden Kosten für einen Heimaufenthalt, aber auch für die häusliche Pflege in eine soziale Notlage, müssen sich von Besitztümern wie Haus, Garten, Auto trennen, rutschen in die Sozialhilfe ab. Im jüngst veröffentlichten Altenbericht bestätigt die Sachverständigenkommission den hohen zeitlichen Einsatz, den Familien von Demenzkranken für die Pflege aufbringen: »Bewertet man diese Leistungen mit einem Geldbetrag und setzt sie zu den Aufwendungen der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung ins Verhältnis, so zeigt sich, dass der überwiegende Anteil der Gesamtaufwendungen von den Familien getragen wird.« Diese Familien erbringen im Anfangsstadium der Krankheit monatliche Leistungen im Wert von 1074Euro und im Spätstadium der Erkrankung des von ihnen betreuten Menschen im Wert von 5829Euro - Leistungen, die von der Gesellschaft nicht honoriert werden. Der AAI stehen nur sehr bescheidene finanzielle Mittel zur Verfügung. Sie kommen vorwiegend aus Spenden und Mitgliedsbeiträgen. Die Initiative ist in starkem Maße auf das Engagement ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer angewiesen. Es sind Menschen, die schon eigene Angehörige betreut haben, die gern für andere Menschen da sein und ihre Freizeit sinnvoll nutzen möchten. Eine faszinierende Aufgabe, die Engagement verlangt, aber auch viel Freude bereiten und Gewinn für die eigene Lebensqualität sein kann. Für Interessenten liegt ein ausführliches Informationsmaterial bereit. Es ist immer wieder erstaunlich, wie es den Betreuern der Alzheimer Angehörigen-Initiative gelingt, sich dem Kranken zu nähern und sein Vertrauen zu gewinnen, ja ihn zu aktivieren. Rosemarie Drenhaus-Wagner nennt eines ihrer Geheimnisse: »Wir müssen lernen, die Welt des Kranken mit seinen Augen - genauer: mit seinem kranken Hirn - zu sehen, das heißt, wir müssen ihm in seine veränderte Welt folgen. Von dort können wir ihn im nächsten Schritt abholen, ein Stück mit ihm gehen und ihn dann ganz behutsam soweit in die Realität führen, wie der Kranke dazu bereit ist.« Viele pflegende Angehörige, die in den vergangenen fünf Jahren von dieser einfühlsamen Betreuung in einer schier ausweglosen Situation profitierten, ließen es sich nicht nehmen, nach der Feierstunde im Roten Rathaus diese...

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