Wackelt Franz Beckenbauers Kaiserstuhl?

DFB-Debakel bei der EM 2000 scheint vergessen / Rudi Völlers Führungsstil ein Schlüssel zum Erfolg

  • Mark Stralau
  • Lesedauer: 3 Min.
Jetzt könnte Rudi Völler sogar Franz Beckenbauer übertreffen. Der deutsche Fußball-»Kaiser« schaffte 1986 bei seinem ersten großen Turnier als Teamchef ebenfalls auf Anhieb den Sprung ins Finale, aber »erst« vier Jahre später war der Weltmeister-Spieler von 1974 bei der Endrunde in Italien endgültig am Ziel seiner Träume angekommen. »Rudi nationale« könnte sich dagegen schon am Sonntag in Yokohama unsterblich machen: 12 Jahre nach dem Titelgewinn als Spieler steht der 42-Jährige gleich bei seinem Turnier-Debüt als Teamchef vor dem größtmöglichen Triumph in einer Trainer-Karriere. »Ich will ehrlich sein, ich freue mich.« In sieben schlichten Worten beschrieb Völler die eigene Gefühlslage. Und das, obwohl dieser Erfolg auch für ihn etwas ist, »was vor vier, sechs, acht Monaten nicht zu erwarten war«. Doch gestern wollte der Teamchef nicht mehr von einer Überraschung reden. Denn seit dem Kamerun-Spiel hatte er gespürt, dass trotz aller Widrigkeiten im Vorfeld plötzlich viel möglich war für sein Team: »Das wusste ich, das wusste die Mannschaft, darüber haben wir gesprochen.« Nach dem EM-Debakel vor zwei Jahren übernahm Völler gemeinsam mit Bundestrainer Michael Skibbe ein Team, das in Trümmern lag. »Es gibt nicht nur Höhen, sondern auch Tiefen. Es sind auch einige Dinge nicht so locker von der Hand gegangen«, räumte Völler eine notwendige Lehrzeit ein. »Mir war bewusst, dass es hin und wieder nicht so einfach ist, wenn man die Verantwortung für die Nationalelf übernimmt«, beschrieb er die Drucksitation in seinem Job. Denn die Deutschen sind verwöhnt nach jeweils drei WM- und EM-Titeln. »Die Vergangenheit, die wir haben, ist nicht so schlecht«, weiß Völler. Trotzdem fordert er: »Wir müssen uns von diesem Traditionsdenken lösen.« Der Sympathieträger hat Konsequenzen aus der kompromisslosen Erwartungshaltung gezogen und bei der WM alles rigoros dem Erfolg untergeordnet: An keinem der 34 Tage seit der Ankunft im japanischen Miyazaki gab er seinem Team trainingsfrei. Auch am Mittwochvormittag trieb er seine Spieler schon wieder auf den Platz. »Er ist eine Autorität«, bemerkte der Münchner Thomas Linke über Völlers unnachgiebigen Führungsstil. In der Vorrunde ließ der Teamchef drei Mal dieselbe Formation beginnen, was den frustrierten Ersatzspielern äußerste Disziplin abnötigte. Danach schickte er einzelne Akteure durch ein Wechselbad der Gefühle: Nach dem Platzverweis gegen Kamerun flog Carsten Ramelow aus dem Team, der neue Abwehrchef hieß Sebastian Kehl. Gegen Südkorea folgte der Salto rückwärts - Ramelow rein, Kehl wieder raus. Auch Christian Ziege fand sich plötzlich auf der Ersatzbank wieder. Oliver Neuville dagegen ist im Angriff vom anfänglichen WM-Touristen zum festen Partner von Miroslav »Air« Klose avanciert. »Eine Mannschaft, die ein Turnier beginnt, ist oft nicht mit der identisch, die es beendet«, bemerkte Völler. Er jammerte auch nicht, als wichtige Akteure vor WM-Beginn ausfielen, sondern er machte aus der Not eine Tugend. Akteure wie Klose, Metzelder und Frings machten erst in diesem Jahr ihr erstes Länderspiel von Anfang an - bei der WM avancierten sie zu Leistungsträgern. »Viele junge Spieler sind dabei, mit denen vor Wochen niemand gerechnet hatte. Und auch ältere, die keiner auf dem Zettel hatte«, verwies der Teamchef auf die vollzogenen Wandlungen in der Mannschaft. »Wir haben das Beste aus unseren Möglichkeiten herausgeholt.« Als kleine Belohnung gab der Teamchef seinen Spielern am gestrigen Nachmittag frei. Die meisten nutzten die kurze Freizeit gemeinsam mit ihren in Seoul weilenden Frauen zu einem Stadtbummel. Ab heute aber beginnt der Countdown auf das siebente WM-Finale einer deutschen Mannschaft. Im Endspiel kann Völler bis auf den gesperrten Michael Ballack sicher aus dem Vollen schöpfen.
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