»Instrument der Verdrängung«

Land bereitet neue IBA vor, kämpft aber noch mit den Folgen der letzten

  • Gaby Gottwald
  • Lesedauer: 3 Min.
Unsoziale Sozialwohnungen in der Kochstraße
Unsoziale Sozialwohnungen in der Kochstraße

Nicht immer sind ungeladene Gäste eine freudige Überraschung. Dies spürte auch die Senatorin für Stadtentwicklung, Ingeborg Junge-Reyer (SPD), als sie sich am Montagabend den Weg durch einen Pulk Demonstranten zu ihrer eigenen Veranstaltung bahnen musste. Die Senatorin hatte zur Vorbereitung der Internationalen Bauausstellung (IBA) 2020 in den Neuköllner Heimathafen zur Eröffnung eines Expertenforums geladen. Unter dem Motto »IBA meets IBA« trafen sich Experten und Akteure vergangener und zukünftiger Bauausstellungen. Mitglieder des Bündnisses Sozialmieter.de und der LINKEN aus Kreuzberg empfingen sie mit Transparenten und Flugblättern und beklagten die Verdrängung von Mietern aus Sozialwohnungen, die im Rahmen der IBA 1984-1987 gebaut worden waren.

Damals war Kreuzberg Schwerpunkt des sozialen Wohnungsbaus, allein 1600 von insgesamt 2246 Sozialwohnungen wurden hier gebaut. Die ehemals mauernahen Bauten liegen heute im begehrten Zentrum der Stadt: vor allem rund um den Checkpoint Charly und am Rande des Potsdamer Platzes. Die Wohnungen wurden zu exorbitant hohen Kosten mit öffentlichen Fördergeldern errichtet. Nach dem Wegfall der sogenannten Anschlussförderung 2003 purzelten die Objekte reihenweise in die Insolvenz. Das Gesetz erlaubt seitdem die Erhebung der Kostenmiete, die sich nach den völlig überhöhten Baukosten bemisst und bis zu 21 Euro pro Quadratmeter betragen kann. Dies gilt auch, wenn Neukäufer heute die Wohnungen weit unter den damaligen Erstellungskosten erwerben.

Daran entzündete sich der Protest der betroffenen Sozialmieter. Sie zahlen für Kosten, »die es überhaupt nicht mehr gibt«, so das Bündnis Sozialmieter.de. »So wird die völlig irreale Kostenmiete zu einem Instrument der Verdrängung«, unterstreicht der Sprecher Sebastian Jung. Die Sozialmieter aus dem Fanny-Hensel-Kiez, der Kochstraße und der Schöneberger Straße wissen nicht, wie sie die Mietsteigerungen zahlen sollen. »700 Euro mehr im Monat, wer kann das schon?«, klagen eine 17-Jährige und ihre Freundin aus der Kochstraße 21. Aber ihre Familien finden auch keine anderen Wohnungen. Die Miete von Herrn Bashir (Name geändert) aus der Schöneberger Straße stieg auf über acht Euro netto/kalt pro Quadratmeter. »Wir haben in Rudow was gefunden, müssen neu anfangen«, sagt er. Ihr bisheriges Quartier wird jetzt als Eigentumswohnung angeboten.

Die Stadtentwicklungssenatorin habe es seit 2006 unterlassen, durch ein eigenes Landesgesetz wie andere Bundesländer das Kostenmietsystem abzuschaffen, obwohl ihr dies möglich war, hieß es bei den Kreuzberger Basisgenossen der LINKEN. Junge-Reyer habe nicht nur die hohe Kostenmiete zugelassen, sondern auch noch die Belegungsbindungen aufgehoben und so die Voraussetzung für die Enteignung des sozialen Wohnraums geschaffen.

Junge-Reyer nahm verschnupft ein Flugblatt, das man ihr entgegen streckte, und entschwand wortlos zum Sektempfang. Sie hatte am 12. April im Senat ein neues Wohnraumgesetz vorgelegt, mit dem sie fünf Jahre verspätet dem sozialen Desaster begegnen will. Das Bündnis Sozialmieter.de weist auf den Pferdefuß im Gesetzentwurf hin: »Sämtliche Rechte des Landes an den Wohnungen sollen ohne Gegenleistung an die Vermieter verschenkt werden, die dann noch höhere Renditen erwirtschaften können.« Initiativen-Sprecher Sebastian Jung kündigte erbitterten Widerstand an.

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