Von »Rumpelfüßlern« zu Weltmeistern?

Am Sonntag (13 Uhr/ZDF) trifft Deutschland im Finale auf Brasilien / Erinnerung an 1954 wird wach Heute (13 Uhr/ARD) kämpfen Südkorea und die Türkei im Duell der »Enttäuschten« um Platz drei

  • Matthias Ende
  • Lesedauer: 6 Min.
Die Anspannung ist unerträglich, der Glaube an die Sensation aber groß. Auf dem letzten Flug vor dem WM-Finale wurde auch dem allerletzten Spieler aus Rudi Völlers Team deutlich: Fußball-Deutschland steht vor dem größten Wunder seit 1954. »Die Chance kriegen wir so schnell nicht wieder, deshalb müssen wir versuchen zu gewinnen«, betonte der Teamchef. Beim ersten Anflug auf Japan vor 36 Tagen hatte kaum jemand einen einzigen Yen auf eine Endspiel-Teilnahme des dreimaligen Weltmeisters gesetzt. In der WM-Qualifikation und einigen Testspielen wurde die Völler-Elf von den Medien schon als »Rumpelfüßler«-Truppe bezeichnet.
Nun wartet am Sonntag im siebenten deutschen WM-Finale der Rekord-Champion Brasilien. Zu Hause ist zwischen Rügen und Bayern die Euphorie kaum zu stoppen. Taktik und Aufstellung stehen, auch wenn sie geheim bleiben. »Wir würden am liebsten schon morgen spielen«, verriet Völler, mit welcher Ungeduld seine Spieler dem finalen Akt in Asien entgegen fiebern. »Wir haben eine realistische Chance. Wir wollen den Titel holen und wir können den Titel holen«, machte Youngster Christoph Metzelder die Einstellung des ganzen Teams deutlich. Mit den deutschen Stärken wie Moral, Einsatzbereitschaft und Kampfgeist seien auch die Brasilianer zu beeindrucken, glaubt der 21-Jährige, der bei einem Sieg zum jüngsten deutschen Weltmeister aller Zeiten aufsteigen würde.

»Das kann bitter enden«
Völler weiß natürlich um die individuelle Klasse der Brasilianer mit den drei großen Stars Ronaldo, Rivaldo und Ronaldinho. »Fast jeder Spieler ist in der Lage, auf eigene Faust etwas zu machen und ein Spiel zu entscheiden«, betonte Völler. Doch er glaubt auch, ein wirksames Gegenmittel zu kennen: Konsequente Defensive gepaart mit hoher Disziplin - erst einmal hinten dicht. Und dann müsse man versuchen, »selbst einige Chancen zu kreieren, auch ein bisschen nach vorn zu spielen«, so der Teamchef, der vor einem offenen Schlagabtausch aber eindringlich warnte: »Wenn man zu früh die Defensive entblößt, kann das bitter enden.«
»Kleinigkeiten, Millimeter, Hundertstel werden entscheiden«, sagte Kapitän Oliver Kahn einen knappen Ausgang voraus - mit einem Happy End für Deutschland. Das erste bundesdeutsche Duell in der 72-jährigen DFB-WM-Geschichte gegen Brasilien überhaupt soll 48 Jahre nach dem ersten Titelgewinn 1954 als »Wunder von Yokohama« in die Geschichte des DFB eingehen. Erstmals seit jenem 3:2 gegen die damalige »Übermannschaft« Ungarn geht die DFB-Elf gegen Brasilien wieder als absoluter Außenseiter in ein WM-Finale. 1966, 1974, 1982, 1986 und 1990 war Deutschland auch von den Experten der Titel zugetraut worden.
Für das Endspiel hat Völler alle 22 verbliebenen WM-Akteure zur Verfügung. Torjäger Miroslav Klose ist trotz einer Rippenprellung einsatzbereit. Fast alle seine Spieler hätten die körperliche Belastung des Turniers »recht gut überstanden«, verriet Völler. Obwohl natürlich auch seine Akteure von der WM und einer langen Saison geschlaucht sind, muss er bei der Aufstellung keine Rücksicht auf Substanzverluste nehmen. »Auch wenn noch zwei Tage Zeit sind, hat man seine Formation im Kopf«, meinte Völler. Wahrscheinlich wird der Münchner Jens Jeremies den gesperrten Michael Ballack ersetzen. Ansonsten vertraut der Teamchef jener Mannschaft, die im Halbfinale Gastgeber Südkorea mit 1:0 bezwungen hatte. »Die meisten wissen es sowieso, wer spielt«, sagte der Final-Coach.

Training ohne Publikum
Rund 2000 Japaner begrüßten das deutsche Team am Freitag nach der Ankunft in der zweitgrößten Stadt des Landes (3,7 Millionen Einwohner) am Nobelhotel »Yokohama Bay Sheraton«. Dort schwört Völler sein Team in den letzten Stunden bis zum Anpfiff des italienischen Schiedsrichter-Stars Pierluigi Collina in aller Abgeschiedenheit auf Brasilien ein. Das Training am Freitag fand ohne Öffentlichkeit statt, das Abschlusstraining am Sonnabend darf von den Medien nur die ersten 15 Minuten beobachtet werden. Am Sonntag aber sollen 70000 im Stadion und Milliarden an den Fernsehschirmen den neuen Weltmeister sehen - Deutschland.

Miese Brasilien-Bilanz
Aber: Gegen keinen anderen der 71 Länderspiel-Gegner hat die DFB-Elf eine schlechtere Bilanz. Von 17 Spielen seit 1963 gewann Deutschland nur drei: 1968 (2:1 in Stuttgart), 1986 (2:0 in Frankfurt/ Main) und 1993 (2:1 in Köln) gab es jeweils Heimsiege. Im bislang letzten Vergleich kassierte die Nationalmannschaft die höchste von 10 Niederlagen. Beim FIFA-Konföderationencup am 24. Juli 1999 im mexikanischen Guadalajara setzte es eine 0:4-Schlappe. Im damaligen deutschen Rumpfteam waren aus dem heutigen Kader Lars Ricken, Michael Ballack und Oliver Neuville dabei.
Im Endspiel wird es nebenbei noch einen Kampf um die Torjägerkrone geben. Klose (5 Treffer) könnte gegenüber Rivaldo (5) und Ronaldo (6) noch Boden gut machen. Doch Ronaldos größter Erfolg »ist bereits jetzt der Sieg über meine vielen Verletzungen«. Er ist erst 25 und könnte bei der WM 2006 den Rekord seines Kapitäns Cafu einstellen, der am Sonntag in Yokohama als erster Spieler der Welt zum dritten Mal in Folge in einem WM-Finale steht. Anno 2002 möchte Ronaldo das 0:3-Finaldebakel 1998 gegen Frankreich vergessen machen: »Vorher wären wir mit dem zweiten Platz zufrieden gewesen, jetzt wäre es ein Flop.« Der Druck lastet unweigerlich auf den Schützlingen von Trainer Luiz Felipe Scolari. In der Heimat erwarten 170 Millionen Fußballverrückte nichts anderes als den Titel.

Deutschland: Kahn (München/33 Jahre/51 Länderspiele) - Frings (25/14), Linke (München/ 32/40), Ramelow (Leverkusen/28/29), Metzelder (Dortmund/21/11) - Schneider (Leverkusen/28/ 15), Hamann (Liverpool/28/45), Jeremies (München/28/39), Bode (Bremen/32/39) - Neuville (Leverkusen/29/35), Klose (Kaiserslautern/24/18).
Brasilien: Marcos (Palmeiras Sao Paulo/29/22) - Cafu (AS Rom/32/110), Lucio (Leverkusen/24/ 22), Edmilson (Olympique Lyon/25/18), Roque Junior (AC Mailand/25/23) - Kleberson (Atletico Paranaense/23/10), Gilberto Silva (Atletico Mineiro/ 25/13), Roberto Carlos (Real Madrid/29/90) - Rivaldo (FC Barcelona/30/65) - Ronaldinho (Paris St. Germain/22/29), Ronaldo (Inter Mailand/25/ 63).
Schiedsrichter: Collina (Italien).

Das »kleine Finale«
Mit einem Sieg im »kleinen Finale« will der WM-Gastgeber das Werk von Trainer Guus Hiddink krönen. Für den Niederländer ist es das letzte Spiel als Coach von Südkorea. Auch Sturm-Oldie Sun-Hong Hwang nimmt seinen Abschied aus der Nationalmannschaft. Eventuell wird Hiddink einigen Ersatzspielern eine Einsatzchance geben. Die Chancen der Südkoreaner auf Bronze stehen nicht schlecht. Nach dem Scheitern im Halbfinale fürchtet der türkische Trainer Senol Günes, dass sich seine Mannschaft körperlich und mental nicht rechtzeitig erholt. Daher ist mit einigen Umstellungen gegenüber dem Brasilien-Spiel zu rechnen. Im Angriff wird wahrscheinlich Ilhan Mansiz für Hasan Sas stürmen. Insgesamt gesehen, dürfen beide Teams jedoch mit ihrem Abschneiden hoch zufrieden sein.

Südkorea: Woon-Jae Lee - Choi, Hong, Tae-Young Kim - Song, Yoo, Young-Pyo Lee, Park - Cha, Ahn, Chun-Soo Lee.
Türkei: Rüstü - Fatih Akyel, Alpay, Emre Asik, Ümit - Emre Belözoglu, Bastürk, Tugay, Arif - Sükür, Mansiz.
Schiedsrichter: Mane (Kuwait).
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