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Polizeiführung nach Erfurter Todesschüssen am Pranger
Heftige Kritik am Einsatzleiter/Landtagsopposition fordert Aufklärung
Zwei Wochen nach der Veröffentlichung des vorläufigen Abschlussberichtes über den Amoklauf am Erfurter Gutenberg-Gymnasium sind erneut schwere Vorwürfe gegen die für den Polizeieinsatz Verantwortlichen laut geworden.
Im Zusammenhang mit der gestrigen Vorabveröffentlichung eines Berichtes des Hamburger Magazin »Stern« kritisierte der parteilose innenpolitische Sprecher der PDS-Landtagsfraktion, Roland Hahnemann, das Schweigen der politisch Verantwortlichen als »mittlerweile unerträglich« an. Täglich mehrten sich in der Öffentlichkeit kritische Einschätzungen und Vorwürfe gegen den Bericht der Landesregierung, betonte der PDS-Politiker gestern in Erfurt. Die Landesregierung habe genügend Zeit gehabt, im Interesse der Betroffenen, der Öffentlichkeit und auch der Verantwortlichen diese Anwürfe zu entkräften. Es sei unverantwortlich, die Kritik am Bericht einfach zu ignorieren. Das 43 Seiten umfassende Papier war schon bei seiner Vorlage heftig angegriffen worden, weil es erst eine Woche nach der Beratung im Kabinett der Öffentlichkeit vorgelegt worden war. Innenminister Christian Köckert (CDU) hatte diesen Zeitverzug damit begründet, dass von den drei beteiligten Ministerien erst noch Hinweise aus dem Kabinett in das Papier eingearbeitet werden mussten. In den Oppositionsfraktionen von PDS und SPD hatte dieses Eingeständnis die Vermutung genährt, der Bericht sei geschönt worden. Diese Mutmaßungen erhalten jetzt durch die Veröffentlichung des »Stern« neue Nahrung. Unter Berufung auf Angehörige der Opfer, auf Ärzte und Polizeibeamte werden in dem Bericht schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen des Einsatzes erhoben. Bereits am Tag des Amoklaufes des einstigen Gymnasiasten Robert Steinhäuser, der am 26. April 16 Menschen erschossen und sich schließlich selbst das Leben genommen hatte, war das schleppende Vorgehen der Polizei mit Kopfschütteln verfolgt worden. Schon damals wurde gerügt, dass erst zweieinhalb Stunden nach den ersten Schüssen Rettungskräfte die Schule betreten konnten. Ein Arzt berichtete dem »Stern«, die erschossenen Schüler seien keine halbe Stunde tot gewesen, als er zu ihnen kam. Auch ein Lehrer war nach Angaben von Rettungskräften bei deren Eintreffen noch am Leben und starb unter ihren Händen. Im Abschlussbericht wird dagegen behauptet, die schriftlichen Obduktionsberichte belegten, dass alle Opfer auch bei sofortiger medizinischer Notversorgung keine Überlebenschance gehabt hätten. Belege in Gestalt einer exakten Beschreibung der Verletzungen wurden dafür allerdings nicht geliefert. Während der Tathergang auf sechs Seiten minutiös geschildert wurde, finden sich zu den Obduktionsbefunden ganze fünf Zeilen. Wenn die Unklarheiten zu den Todeszeitpunkten nicht geklärt würden und wenn es keine schlüssigen Antworten auf die Fragen zum späten Eingreifen des Sondereinsatzkommandos (SEK) gebe, werde der gesamte Einsatz der Polizei- und Rettungskräfte diskreditiert, betonte Roland Hahnemann. Er forderte die Landesregierung auf, im Innenausschuss Rede und Antwort zu stehen. Die SPD-Fraktion möchte diese Antworten allerdings lieber öffentlich im Landtagsplenum hören, um weiterer Geheimniskrämerei einen Riegel vorzuschieben. Es gebe zu viele offene Fragen, sagte eine Fraktionssprecherin dem ND. Der vom »Stern« wiedergegebene Satz eines SEK-Beamten »Der ganze Einsatz war die größte Scheiße« spricht da Bände. Dass sich der Einsatzleiter, Erfurts Polizeidirektor Rainer Grube, angesichts der Hilferufe eingeschlossener Schüler und im Wissen um verletzte Kinder für ein langsames Vorgehen statt für einen »Notzugriff« entschieden hatte, war bei den beteiligten SEK-Beamten auf Unverständnis gestoßen. Wenn bekannt sei, dass es verletzte Kinder gibt, müsse die Eigensicherung zurücktreten, hieß es aus den Reihen der Spezialkräfte. Sie seien schließlich so ausgerüstet, dass sie notfalls als Kugelfänger fungieren könnten. Dass ihnen kein Lageplan der Schule vorlag, wirft ein Schlaglicht auf die Organisationsdefizite der Polizei. Das Thüringer Innenministerium brauchte gestern bis zum Nachmittag, um eine Presseerklärung zu verbreiten, in der alle Vorwürfe entschieden zurückgewiesen werden. Die Behauptung, die Polizei habe sich für eine falsche Taktik entschieden, entbehre jeder Grundlage, hieß es in dem Papier. Bei dem im »Stern«-Bericht zitierten Arzt handele es sich um einen ehemaligen Notarzt, der nicht am Einsatz beteiligt war und sich trotz des Hinweises der handelnden Notärztin, alle Opfer seien schon tot, in das Gebäude begeben habe. Eine Notärztin sei bereits wenige Minuten nach der Tat im Gebäude tätig gewesen. Die Polizeitaktik wird damit gerechtfertigt, dass sie die akute Lebensgefahr für die noch...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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