Gleise ziehen Selbstmörder anscheinend magisch an

Studien weisen auf das Problem der Nachahmung hin

472 Suizide gab es nach jüngsten Angaben des Statistischen Landesamtes anno 2000 in unserer Stadt. 1999 waren es 483 gewesen. Der Trend eines leichten, aber mit Schwankungen stetigen Absinkens seit einem Dutzend Jahren hält an. Die meisten der Lebensmüden bringen sich nach schweren psychischen Konflikten mit einer Überdosis von Arzneimitteln bzw. Drogen um, stürzen sich in die Tiefe oder erhängen sich. Auffällig ist, dass man sich immer häufiger in selbstmörderischer Absicht vor einfahrende U- und S-Bahn-Züge wirft oder dasselbe irgendwo auf der Strecke tut. »Gleisanlagen scheinen auf Menschen, die mit dem Leben abschließen wollen, eine besondere Anziehungskraft auszuüben«, meint man dazu bei der Berliner Feuerwehr. Sind Suizide an sich tragisch genug, so ist besonders der Selbstmord auf der Schiene von beträchtlichen Folgeerscheinungen geprägt. Fahrgäste versuchen, im Schock aus der S- oder U-Bahn zu flüchten und begeben sich dadurch selbst in Lebensgefahr. Strecken müssen oft über Stunden gesperrt werden. Für Polizisten, Feuerwehrleute und Bahnmitarbeiter, die den Suizid sehen oder seine Folgen beseitigen müssen, haben solche Einsätze nicht selten traumatische Weiterungen, die von Fall zu Fall zwangsläufig eine psychologische Behandlung nach sich ziehen. Allein beim für die Bahnen zuständigen Bundesgrenzschutz in Berlin mussten seit Anfang 2000 über 200 Beamte auf solche Art betreut werden. Der Selbstmörder suche vor dem Sprung den Augenkontakt zum Triebwagenfahrer - ein Bild, das der nie mehr vergessen könne und ihn unter Umständen zeitlebens untauglich für seinen Beruf mache, wie ein BVG-Angehöriger gestern vor der Presse sagte. Bei BVG und S-Bahn müht man sich derweil um Prävention. Es werden Plakate ausgehängt und die Mitarbeiter geschult, was zu tun ist, wenn einer sich in auffälliger Weise verhält. Immerhin konnten so bei der BVG seit 1997 in 140 Fällen Leute von ihrem Suizid-Vorhaben abgehalten werden. Aber die Möglichkeiten, Selbsttötungen am Orte zu verhindern, bleiben freilich eher gering. Studien in Wien und München weisen unterdessen darauf hin, dass es sich bei einem erheblichen Teil der Suizide auf Bahngelände um Nachahmungstaten handelt. Was meint, dass solche Selbstmorde vielfach in kurzer Folge vorkommen. Als kurzer Abstand zählt noch eine Woche. Auch in Berlin lassen sich nach Ansicht von BVG und BGS solche Auffälligkeiten feststellen. Im August 2001 gab es beispielsweise Schienen-Selbstmorde am 4., 5. und 7., im Dezember am 13., 23., 26. und 28. Ob dies unbedingt auf einen Nachahmungseffekt zurückzuführen ist, bleibt allerdings strittig, unter anderem deshalb, weil der Zufall mitregiert und die Selbstmordrate um Feiertage herum immer nach oben schnellt, wenn sich manche Menschen besonders einsam fühlen und sich so ihre psychischen Probleme potenzieren. In diesem Zusammenhang wurden die Medien gemahnt, behutsam und zurückhaltend mit dem Thema umzugehen. In Wien habe sich durch eine gewisse Selbstbeschränkung der Medien die Bahn-Selbstmordrate in zehn Jahren halbiert. Und auch in Münc...

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