Ein Mann wird gejagt

Neu auf DVD: Essential Killing von Jerzy Skolimowski

  • Ralf Schenk
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein Mann flüchtet durch ein Felslabyrinth. Er rennt um sein Leben, ein Helikopter verfolgt ihn, dazu drei US-amerikanische Soldaten zu Fuß: Fremde im Feindesland. Sie fluchen unflätig, glühende Hitze liegt über Afghanistan. Und hinter jeder Ecke lauert der Gegner, der für sie kein Mensch ist, nur ein Rädchen in der Tötungsmechanik der Taliban. Der Fliehende verbirgt sich in einer Höhle, die Häscher sind ihm dicht auf der Spur. Er legt auf sie an, schießt: Seine Granate zerfetzt ihre Körper in Sekundenschnelle.

So beginnt »Essential Killing« (2010), der neue Film des polnischen Regisseurs Jerzy Skolimowski, der dafür beim Festival in Venedig den Regiepreis und beim polnischen nationalen Festival in Gdynia den Hauptpreis erhielt. Dennoch konnte sich in Deutschland kein Verleih dazu entschließen, die Arbeit auf die Leinwand zu bringen: Ein Beleg für den fragwürdigen Zustand unserer Kinokultur, die jedes halbgare pubertäre Lustspiel aus Hollywood als Ereignis feiert, aber Meisterwerken abseits des Mainstream sträflich oft mit Verachtung begegnet. Immerhin erschien »Essential Killing« jetzt auf DVD: ein bitterer, verstörender, großartig fotografierter und gespielter Film, der die Gedanken schärft und zur Debatte geradezu herausfordert.

Skolimowski bürstet seinen Stoff gegen den Strich: Er weigert sich, die Welt fein säuberlich in Gut und Böse einzuteilen; wohlfeiler westlicher Patriotismus ist ihm fremd, »Essential Killing« ist für keinerlei Propaganda ausbeutbar. Nachdem Taliban Mohammed durch US-Truppen festgenommen wurde, versetzt ihn der Regisseur in ein erbarmungsloses Räderwerk: Er beschreibt den Zwang, orangene Overalls als Gefangenenkleidung anzulegen, das Abschneiden der Haare, das Brüllen des Verhöroffiziers, den Einsatz von Folterinstrumenten. All dies gehört zur Eigendynamik jenes »Krieges gegen den Terror«, der längst selbst zum Terror geworden ist. Denken und Fühlen sind dabei auf allen Seiten ausgeschaltet, es gibt kein Erbarmen unter der Sonne. – Skolimowski wechselt zwischen »objektiven« Bildern, die den Ablauf der Verhöre aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters skizzieren, und subjektiven Momenten, bei denen der Film die Perspektive Mohammeds einnimmt. So hören wir das unerträglich laute Pfeifgeräusch, das sich nach dem Schusswechsel in seinem Kopf festgesetzt hat. Und wir blicken durch den engen Schlitz der Kapuze, die dem Gefangenen übergestülpt wurde. Der Mensch, degradiert zum Gegenstand eines routinierten, staatlich sanktionierten Zwangssystems.

Mohammed, gespielt von Hollywood-Star Vincent Gallo, spricht während des Films kein Wort. Er erduldet, was mit ihm geschieht, lehnt sich nicht auf, sieht sich später durch reinen Zufall in die Lage versetzt, fliehen zu können. Mit einer Gruppe von Gefangenen ist er nach Polen gebracht worden, einem militärischen Verbündeten der USA; hier stürzt der Kleinbus auf winterlicher Straße einen Abgrund hinab. Mohammed wird, an Händen und Füßen gefesselt, aus dem Auto geschleudert, versteckt sich, will sich dann ergeben, doch es ist niemand mehr da, der ihn erneut festsetzen könnte. Um zu überleben, muss er sich durch einen eisigen Wald schlagen. Muss Baumrinde, rohen Fisch und Ameisen essen, saugt an der Brust einer jungen Mutter, die betrunken von ihrem Fahrrad fällt. Und er tötet ...

Skolimowski und Gallo machen mit drastischen, schockierenden Szenen erfahrbar, was Überlebenskampf bedeuten kann. Ihrer Hauptfigur begegnen sie dabei keineswegs mitleidig, dafür ist Mohammed zu grausam. Aber sie denunzieren ihn auch nicht als mordlüsternes Ungetüm. Er ist ein Mensch, dem nichts anderes bleibt, als all seine Instinkte gegen die feindliche Umwelt zu aktivieren. Denn: Er will zurück in die Heimat, zur Familie, die er in kurzen Träumen und Visionen wie im Rausch imaginiert (was im Übrigen die schwächeren Momente des Films sind).

Es gibt nur eine Figur, die Mohammed als Menschen sieht und auch so behandelt: die stumme Frau (Emmanuelle Seigner) in einem Blockhaus am Rand des Dorfes. Sie verbindet den Verwundeten, gibt ihm Brot, behütet seinen Schlaf, verrät ihn nicht an die Polizeistreife. Am Ende reitet er auf einem weißen Pferd davon; sein Blut färbt das Fell des Tieres rot. Rot und Weiß – die polnischen Nationalfarben: ein symbolisches Finale, das manchem vielleicht zu pathetisch erscheinen mag, aber doch auch außerordentlich eindrucksvoll ist.

Mit »Essential Killing« hat sich der 75-jährige Altmeister Jerzy Skolimowski als einer der großen Regisseure des Weltkinos zurück gemeldet. In jungen Jahren war er als Autor für Andrzej Wajda (»Unschuldige Zauberer«) und Roman Polanski (»Messer im Wasser«) bekannt geworden, inszenierte dann analytische Filme über moralische Befindlichkeiten seiner Generation (»Besondere Kennzeichen: keine«, »Walkover«) und verließ 1967 nach dem Verbot des antistalinistischen »Hände hoch!« seine Heimat. Im Westen realisierte er zunächst einige herausragende Produktionen (»Start«), bekam dann aber immer weniger zu tun, sodass er sich jahrelang auf seine Arbeit als bildender Künstler zurückzog. Mit dem psychologischen Kammerspiel »Vier Nächte mit Anna« (2008), das er nach fast 20-jähriger Filmpause wieder in Polen inszenierte, geriet ihm ein erster später Erfolg. Nach »Essential Killing« darf man auf weitere Filme dieses Regisseurs wieder sehr gespannt sein. – Schön wäre gewesen, wenn Skolimowski für die DVD-Edition zu seinem Leben und Werk befragt worden wäre. Dass das Bonusmaterial gegen Null tendiert, ist ein Manko, das bei kommenden Auflagen beseitigt werden sollte.

Essential Killing. Polen/ Großbritannien/Irland/ Ungarn/ Norwegen 2010. 82 min. Hrsg.: Ascot Elite, ca. 14,99 Euro.

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