Der Tramp und der Diktator

Das Festival »Chaplin Complete« präsentiert nicht nur das Gesamtwerk des Ausnahmekünstlers

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.
Der erste Antiheld der Filmgeschichte: Charlie Chaplin
Der erste Antiheld der Filmgeschichte: Charlie Chaplin

Von den Litfaßsäulen blickt er schon seit Wochen herab, ab heute ist Charles Spencer Chaplin auch in bewegten Bildern in Berlin zu sehen. In Kooperation mit dem Filmfest »Il Cinema Ritrovato« in Bologna, mit der Kinemathek Bologna, die Chaplins Nachlass pflegt, sowie der Familienstiftung Association Chaplin zeigt das Kino Babylon gut drei Wochen lang das Gesamtwerk des Jahrhundertkünstlers.

Das Ereignis von internationalem Rang präsentiert nicht nur Chaplins komplettes Werk, also 80 Filme in 24 Tagen, zehn große Aufführungen mit Orchester, oder vier international renommierte Pianisten zur Begleitung der praktisch vollständig vertretenen frühen Kurzfilme. Zusätzlich wird ein Abend mit Liedern aus Chaplins Feder gefüllt, werden drei ganz besondere Gäste erwartet sowie eine Foyer-Ausstellung zu Chaplins legendärem Berlin-Besuch von 1931 aus Beständen der Deutschen Kinemathek ausgerichtet – alles kuratiert von Friedemann Beyer.

Es beginnt mit einem Paukenschlag: Auf die abendliche Eröffnung im großen Saal des Babylon mit »The Gold Rush« und dem Neuen Kammerorchester Potsdam unter Timothy Brock (der die von Chaplin komponierte Originalmusik zu seinen Stummfilmen rekonstruierte), folgt um 22 Uhr eine kostenlose Open-Air-Vorführung. Da lässt sich Chaplin am Pariser Platz in seiner berühmtesten Doppelrolle betrachten, als harmloser jüdischer Friseur und als dessen diktatorischer Doppelgänger Adenoid Hynkel. Der trägt den gleichen Bart wie Chaplin und ist von globalen Allmachtsfantasien besessen.

»The Great Dictator« und sein legendärer Tanz mit dem Weltkugelluftballon war Chaplins erster Tonfilm – der Idee vom Film mit Ton hatte er sich lange verweigert. Auch wenn der Regisseur später sagte, hätte er vom Holocaust gewusst, so hätte er für seine Warnung vor den Nazis nicht die Komödienform gewählt – dass sein einst in Deutschland verbotener Film nun vor dem Brandenburger Tor aufgeführt wird, lässt sich nur mit Genugtuung betrachten. Der Film lässt sich noch an vier weiteren Terminen auch im Babylon selbst genießen. Dort sind auch Chaplins sechs abendfüllende Stummfilme und die vier späteren Tonfilme im Programm – die Stummfilme werden jeweils mindestens einmal (zu den Wochenenden) mit Orchesterbegleitung und von der Filmkopie präsentiert.

In den Wiederholungen mit dem Soundtrack von der Tonspur werden sie digital gezeigt, ebenso wie die meist klavierbegleiteten Kurzfilme. Die stammen aus Chaplins frühen Jahren im Filmgeschäft, als er noch kein eigenes Studio hatte, sondern nacheinander für die US-Produktionsfirmen Keystone (1914), Essanay (1915), Mutual (1916/17) und First National (1918-21) arbeitete. Thematisch geordnet und zu Programmen zusammengestellt zeigen die Einakter (12 Minuten) und Zweiakter (24 Minuten) Chaplins stufenweisen Weg zur künstlerischen Unabhängigkeit seiner Spielfilme. Frisch von der Varieté-Bühne kommend, ist er zunächst noch als Teil eines Ensembles unter Fremd-Regie zu sehen, dann zunehmend sein eigener Gagschreiber, Drehbuchautor, Regisseur, Hauptdarsteller, später auch Produzent und Komponist.

In den Kurzfilmen lässt sich das ganze Spektrum von Chaplins Themen und Motiven ablesen. Sei es im ersten Keystone-Kurzfilm »Making a Living«, der von seinem eifersüchtigen Regisseur (und Ko-Star) so geschnitten wurde, dass man möglichst wenig von Chaplins komischem Einfaltsreichtum mitbekam, sei es in »Kid Auto Races at Venice, Cal.«, in dem Chaplins späteres Markenzeichen, die Tramp-Figur, zum ersten Mal auf der Leinwand erschien – während er einer Kamera-Crew im Weg steht. Oder »The Knockout«, bei dem Charlie als Kampfrichter zwischen die Fäuste zweier Boxer im Ring gerät, und »The Bond«, Chaplins Beitrag zum Krieg in Europa. Hier darf er als Tramp dem letzten deutschen Kaiser mal kräftig einen Hammer namens »Kriegsanleihen« über den Kopf ziehen. In »The Rink« sorgt ein schlittschuhbewehrter Charlie für viel Getümmel auf der Eisbahn, während im ungleich sozialrealistischeren »Easy Street« die Komik in Bilder von Armut, Drogensucht und Gewalt gebettet ist.

Ehrengäste des ersten Wochenendes sind die berühmteste Chaplin-Tochter, Geraldine, und der britische Chaplin-Biograf David Robinson. Am zweiten Wochenende führt Stummfilmforscher und Oscar-Preisträger Kevin Brownlow in zwei Dokumentarfilme über Leben und Werk von Charlie Chaplin ein: für die dreiteilige Fernsehdokumentation »Unknown Chaplin« öffnete die Chaplin-Familie ihm Anfang der Achtziger ihre Archive. Und »The Tramp and the Dictator« geht der Frage nach, ob Hitlers Schnurrbart möglicherweise eine Hommage an Charlie Chaplin war – dessen Filme er gleichwohl verbieten ließ.

15.7.-7.8., Kino Babylon, OF oder OmU, Generalproben der Orchester offen für Kinder, mit Kinderferienpass gratis, Tel. (030) 242 59 69, www.babylonberlin.de

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