Wilde Privatisierung ruft Proteste hervor

Gewerkschafter fordern Rettung vom Staat

  • Julian Bartosz, Wroclaw
  • Lesedauer: 2 Min.
In Szczecin wurde am Sonnabend ein »übergewerkschaftliches« Protestkomitee von Vertretern existenzgefährdeter privatisierter Firmen gegründet.
Zweiunddreißig Repräsentanten von Betrieben, die vor dem Bankrott stehen und deren Eigentümer Tausende Arbeiter vor die Werktore setzen wollen, versammelten sich in eben dem Saal, in dem Ende Juli 1980 der damalige Streikführer Marian Jurczyk und PVAP-Politbüromitglied Kazimierz Barcikowski das Protokoll zur Beendigung des seinerzeitigen Streiks unterzeichneten. Laut Janusz Gajek, Koordinator des Protestkomitees, formulierten die Gewerkschafter fünf kategorische Forderungen an die Regierung, die dafür sorgen soll, dass die Last der »wilden kapitalistischen Transformation nicht allein auf den Buckel der Lohnabhängigen geladen wird«. Das von den Szczeciner Schiffbauern angeregte Komitee verlangt - wie zu alten Zeiten - »ein sofortiges Treffen mit Regierungsvertretern«. Ein Parlamentsausschuss solle unter Beteiligung von Komi-teemitgliedern die bisherige »Restrukturierung« in der Wirtschaft Polens untersuchen. Sofort müsse mit der »kriminellen Privatisierung« und dem Ausverkauf des Nationaleigentums aufgehört werden. Für den Schiffbau - in Szczecin protestieren seit März 6000 Arbeiter gegen die Misswirtschaft und die »kreative Buchführung« (sprich: Betrug) der privaten Eigentümer - wird die Ausrufung des »Katastrophenzustands« gefordert, um mit staatlichen Mitteln »zu retten, was noch zu retten ist«. Das Komitee will schließlich eine sofortige Beendigung »der Manipulationen am Arbeitsrecht«. Am 18 Juli, wenn der Sejm über die Lage im Schiffbau debattiert, sollen in Szczecin und anderen Städten Demonstrationen stattfinden. Ob dies alles jedoch eine Änderung in der Wirtschaftspolitik bewirkt, hängt vor allem davon ab, was der neue Finanzminister Grzegorz Kolodko dem Kabinett zur Sanierung des Haushalts und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit vorzuschlagen hat. Mit einer radikalen Kurswende ist kaum zu rechnen. Traurig aber wahr ist, dass die Lohnabhängigen, die - verführt von »Solidarnosc«-Parolen - zuerst nach der Privatisierung gerufen haben, jetzt im Staat die einzige Rettung sehen. Weil dafür angesichts der Haushaltsmisere und der herrschenden ideologischen Dogmen nicht die geringsten Chancen bestehen, wird das Ausbleiben konkreter Hilfe zur Erhaltung der Arbeitsplätze nun der Mitte-Links-regierung unter Leszek Miller angekreidet. Dem Kabinett bleibt jetzt eigentlich nur eine Möglichkeit, die heiße Protestwelle durchzustehen: Es muss »starke Nerven bewahren«, bis in einem Monat der Papst nach Polen kommt, worauf im frommen Land Ruhe einkehren wird.
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