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Krimi um ein verschollenes Bild

Die Merseburger Willi-Sitte-Galerie zeigt die Entstehung des Gemäldes »Lidice«

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Diese Ausstellung lässt sich auch als Krimi lesen. Vor der Frage nach Tätern steht dabei die Frage im Zentrum, wie es gelingen kann, ein zwölf Quadratmeter großes Gemälde spurlos verschwinden zu lassen. Dreieinhalb mal knapp dreieinhalb Meter groß war »Lidice«, ein 1959 beendetes Bild, in dem der Hallenser Maler Willi Sitte das SS-Massaker in dem gleichnamigen böhmischen Dorf verarbeitete. Am Ort dieser Tragödie, bei der am 9. Juni 1942 als Rache für das Attentat auf NS-Statthalter Heydrich alle männlichen Bewohner des Bergarbeiterdorfs ermordet wurden, sollte das Bild ab 1962 in einem Museum ausgestellt werden. Doch es kam in Lidice nie an – und ist bis heute verschollen.

Das Verschwinden hat den kuriosen Umstand zur Folge, dass in der Ausstellung »Lidice und die Freiheit der Malerei« das namensgebende Werk nur als Fotografie in Schwarz-Weiß zu sehen ist. Doch das Haus auf dem Merseburger Domberg lässt anhand zahlreicher im Original erhaltener Studien und Skizzen den Weg nachvollziehen, auf dem sich Sitte dem Thema näherte, das ihn tief bewegte – zum einen, weil er in Böhmen gebürtig und weitläufig mit Bewohnern Lidices verwandt war; zum anderen, weil er als Wehrmachtssoldat Spuren ähnlicher Massaker selbst hatte sehen müssen.

Zu den Vorzügen der Ausstellung gehört dabei, dass sie sich nicht auf Sittes Beschäftigung mit dem Thema Lidice beschränkt, sondern auch zeigt, wie dieser sich schon in den Jahren davor in teils großformatigen Werken mit historischen Themen befasste. Dazu gehört das 1942/43 entstandene Bild »Die Schlacht bei Liegnitz«, das sich in der Gruppierung der Figuren und der Darstellung der Krieger noch an da Vinci und Velázquez orientierte. Einige der in Merseburg erstmals zu sehenden Skizzenbücher Sittes zeigen fast altmeisterlich anmutende Studien von Pferden in wilder Bewegung. Sie finden sich im Getümmel auf dem Gemälde wieder, das eine Schlacht zwischen Mongolen und einem deutsch-polnischen Heer von 1241 zum Thema hat.

Weniger Schlachtenlärm als vielmehr die Stille nach den Schüssen spricht aus dem ebenfalls großformatigen Bild »Völkerschlacht« von 1953, in dem Sitte deutlich die Verwüstungen nach den Gefechten sowie deren Opfer in den Vordergrund stellt. Noch weiter zugespitzt wird diese Perspektive wenig später in »Lidice«, dessen Form an die eines Altarbildes angelehnt ist: Das Bild ist ein Diptychon mit querliegender Predella. Dieser untere Raum ist den Toten vorbehalten. Einer der Flügel zeigt die Täter: rauchende, fotografierende, gesichtslos dargestellte Soldaten. Der zweite Flügel zeigt eine der Frauen von Lidice, die das KZ überlebt hat und an den Ort des Schreckens zurückgekehrt ist.

Die Vorarbeiten, die in Merseburg durch Ölbilder wie weitere Skizzenbücher dokumentiert werden, illustrieren nicht nur eindrucksvoll das Ringen Sittes mit dem Thema und dessen geeigneter Darstellung; sie belegen auch, wie er ähnliche Motive anderer Künstler aufnahm und verwandelte, vor allem von Picasso und Fernand Léger. Es sind nicht zuletzt diese augenfälligen Referenzen, die dafür sorgten, dass um »Lidice« eine heftige kulturpolitische Debatte entbrannte. Alfred Kurella, Leiter der Kulturkommission beim SED-Politbüro, rügte 1959 die »starken Einflüsse des Kubismus«, die zu einer »Entstellung des Menschenbildes« geführt hätten; auch sei es Sitte nicht gelungen, die »tragische Größe der Toten« und vor allem der Frauen von Lidice zu erfassen.

Auch diese Kontroverse dokumentiert die von Gisela Schirmer kuratierte Ausstellung in der Willi-Sitte-Galerie. Den Bogen vom Streit um das Bild zu dessen möglichem Verschwinden schlägt Schirmer im lesenswerten Begleitband. Dort wird einigen möglichen Erklärungen nachgespürt – bis hin zu der eines politisch begründeten Quasi-Kunstraubs: Es sei »nicht auszuschließen, dass der Geheimdienst das Bild verschwinden ließ, entweder aus eigenem Interesse oder auf Veranlassung von Gegnern der Transaktion (gemeint ist die Überstellung an das Museum in Lidice – H.L.) in Berlin«. Galeriechef Dietmar Rother hofft, dass der Krimi um Sittes »Lidice« nicht auf ewig mit einem »Cliffhanger« enden muss – und doch noch eine Spur zu dem Bild auftaucht.

Willi Sitte: Lidice und die Freiheit der Malerei. Bis 31. 12. in der Willi-Sitte-Galerie Merseburg.

Gisela Schirmer: Willi Sitte – Lidice. Historienbild und Kulturpolitik in der DDR. Dietrich Reimer Verlag 2011. 157 S., geb., 19,95 €.Zkultur

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