Kreation kontra Konfektion

Dramaturgisch durchwachsen: Die Gala zur Spielzeiteröffnung beim Staatsballett

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.
Hier tanzt der Chef persönlich: Intendant Malakhov
Hier tanzt der Chef persönlich: Intendant Malakhov

Kein Mammutprogramm wie sonst, eine Gala von zwei Stunden: So begann beim Staatsballett Berlin die neue Saison. Was bisher in der Lindenoper stattfand und in einem Gala-Diner kulminierte, beschränkte sich diesmal »nur« auf den Tanz und ein Glas Sekt in der Pause. So wurde der sanierungsbedingte Ausfall des Apollosaals sprudelnd überbrückt. Dass die Deutsche Oper, neues Domizil der Compagnie um Intendant Vladimir Malakhov, außerdem mehr Plätze bietet als das Haus Unter den Linden, schlug positiv zu Buche: ausverkauft bis auf den letzten Sitz. Zu sehen gab es einen ungewöhnlich gebauten Abend, dem Terminus Gala entsprach eher sein erster Teil. Er reihte sieben kürzere Stücke, neben mehreren Extrakten des Repertoires zwei Berliner und eine deutsche Erstaufführung, und präsentierte ein Gutteil der Solistenequipe. Was wohl nur noch in Petersburg auf dem Spielplan steht, Marius Petipas getanzte Operette »Rast der Kavallerie«, lieh den Auftakt. Im Pas de deux für Strahlemänner bewährten sich Sebnem Gülseker und Marian Walter, sicher auf Spitze sie, salutierend er. Abschiedsschweres Leid dann in »Araz«, einem Duett der türkischen Choreografin Zeynep Tanbay nach Musik von Philip Glass. Wenig Persönlichkeit verlangt die Miniatur ihren Tänzern Elisa Carrillo Cabrera und Vladimir Malakhov ab und hinterließ kaum Eindruck.

Erheblich mehr zu punkten wusste Rainer Krenstetter, dem Wiens ehemaliger Ballettchef Renato Zanella das Solo »Barocco« zu einer Händel-Arie, gesungen von Countertenor, passgerecht auf den Leib choreografiert hat. Mit Verve, langer Schleppe, freiem Oberkörper betritt Krenstetter die Szene, die Hand vor seinem Gesicht. Dann lässt er sich hinter die Maske sehen, »entlarvt« sich, ehe er wieder ins Zeremoniell verfällt; erst im letzten Blick fragt er: Habt ihr mich erkannt? Tänzerisch dicht gewirkt ist das Solo, das Krenstetter elegant und präzis ausstellt. Wie Klassik modern heute ausschaut, das demonstrierte Tim Plegges Duett aus »Sonett XVIII« wieder zu Musik von Philip Glass. Was bereits in einem »Shut up«-Programm des Staatsballetts für Furore gesorgt hatte, bewahrte auch in der Gala seinen Wert. Mit schlangenhafter Geschmeidigkeit leben Nadja Saidakova und Vladislav Marinov als brillante Interpreten Nähe und Distanz aus, ohne jedes Pathos und gerade deshalb anrührend. Plegges choreografisch originelle Sprache macht Appetit auf mehr.

Schwer einschätzen lässt sich das Berlin-Debüt des Australiers Stanton Welch, Leiter des Houston Ballet – ist das Duett, das Malakhov und Mikhail Kaniskin tanzten, doch nur Ausschnitt des abendfüllenden Werks »Clear«. Der 2. Satz aus Bachs Konzert für Oboe, Violine, Streicher BWV 1060 grundiert die Elegie zweier Männer, der eine Spiegel oder Alter ego des anderen, bis wie im Traum eine Frau zwischen sie tritt und ausgestoßen wird. Der berührungslose Tanz kann weitergehen.

Größeres Gewicht haben zwei bewährte Stücke. Was bereits vorzeiten ganz über die Szene der Deutschen Oper ging, Roland Petits »Carmen«, steuerte nun den zentralen Pas de deux bei, in dem Carmen Don José befeuert, bis er ihr erliegt. Fehlt es Ibrahim Önal an Hingabe, eroberte sich die Ausnahmeballerina Polina Semionova nun den Part der bis in die Schulter erotisch raffinierten Zigeunerin. Auch »The Sofa« ist lediglich Exzerpt aus einem Werk, hier des Israeli Itzik Galili, steht indes überlebensfähig auf eigenen Füßen, oder denen jenes Requisits, mit dem ein Paar aufkippt. Artistisch der virtuoseste Galabeitrag, bravourös für Leonard Jakovina mit neuer Farbe auf seiner Darstellerpalette und den Katalysator Michael Banzhaf, während Iana Balova, kurzfristig eingesprungen, noch nicht die Präsenz einer Soraya Bruno als Originalfrau hat.

Nicht unproblematisch der zweite, live begleitete Gala-Teil. Hatte Malakhov 2001 für die Staatsoper Wien Ballettmusiken von Giuseppe Verdi in einer abendfüllenden Choreografie gebündelt, löste er nun das Divertissement »Die vier Jahreszeiten« für das Berliner Repertoire heraus. Ihm liegt die Balletteinlage der Oper »Die sizilianische Vesper« zugrunde. Malakhov entwirft sie als edles saisonales Defilee, vom Winter bis zum Herbst, das viel, jedoch überwiegend konfektionierten Tanz bietet. Bei Dinu Tamazlacaru und Iana Salenko als Solopaar im »Herbst« blitzt Galafeuer auf.

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