Schrecken, Tod, Verfall

Gunnar Decker schreibt das fehlende Buch über den Dichter Georg Heym

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Es sollte ein langer Tag auf Schlittschuhen werden. Er endete gegen 15 Uhr mit einer Tragödie. Ernst Balcke, der Freund, brach ein, und Georg Heym versuchte, ihn zu retten. Beide starben an jenem bitterkalten 16. Januar 1912 unter der Eisdecke des Wannsees. Heym war 24 Jahre alt, seit kurzem Referendar und Verfasser des im Vorjahr bei Rowohlt erschienenen Gedichtbandes »Der Ewige Tag«, von dem Balcke in der Zeitschrift »Aktion« gesagt hat, es seien »wilde, harte, erbarmungslose Töne« in vielen Verszeilen, »Schilderungen des Todes und der Verwesung«. Das »Berliner Tageblatt«, das am 19. Januar über das Unglück berichtete, nannte Heym eine »schöne Begabung«.

Viel später, ein halbes Jahrhundert danach, wenn endlich ernsthaft nach der verstreuten, unterdrückten Hinterlassenschaft des Dichters und seiner expressionistischen Gefährten gefahndet wird, für die Nazis nichts anderes als »entartete Kunst«, wird der junge Paul Raabe in Berlin und Neuruppin nach Spuren Heyms suchen. Er ist für ihn »ein genialer Dichter, der das kommende Unheil des Krieges in seinen Gedichten und Prosastücken auf eine unheimliche Weise voraussah und dessen früher Tod das Schicksal einer jungen Dichtergeneration auf tragische Weise vorwegnahm«. Raabe, seit 1958 im Marbacher Literaturarchiv beschäftigt, ein für Literatur, für Dichtung glühender Mann, machte die Leistungen dieser Poeten erstmals 1960 in seiner großen und legendären Expressionismus-Ausstellung sichtbar. Zur selben Zeit, zwischen 1960 und 1968, edierte sein Kollege Karl Ludwig Schneider bei Heinrich Ellermann in Hamburg eine umfassende kritische Heym-Ausgabe, die einzige, die wir haben, die erste zugleich, die die vorhandenen Lücken schloss, vier Dünndruckbände, die den Blick freigaben auf ein ungeheures, vehement hingeworfenes Werk, in dem vieles Skizze blieb, Fragment, Entwurf. (Der Verlag Zweitausendeins hat diese Bände 2005 noch einmal in einer dicken, einbändigen und erstaunlich preiswerten Broschur zusammengefasst.)

Seit jenen Tagen ist Georg Heym ein Begriff. Seine Strophen stehen in Anthologien und Auswahlbänden, gedruckt einst auch bei Aufbau und Reclam in Leipzig (mit dem schönen Nachwort von Stephan Hermlin), aber zu einer Biografie hat es dieser außerordentliche Dichter seltsamerweise nicht gebracht. Liegt's daran, dass sein Leben so kurz und ereignisarm war? Vielleicht. Auch Gunnar Decker, der zum bevorstehenden hundertsten Todestag im Verlag für Berlin-Brandenburg ein Büchlein über Heym vorlegt, verspricht keine Lebensbeschreibung, sondern einen »biographischen Essay«. Es ist die erste Heym-Publikation nach langer Zeit und die bislang einzige Studie, die eingehend die Voraussetzungen dieser Dichtung erzählt, ohne dem Ehrgeiz zu verfallen, die letzten Dinge im Leben Heyms klären zu wollen.

Er kam aus der Provinz, geboren 1887 im schlesischen Hirschberg. Der Vater Staatsanwalt, ein hysterischer, autoritärer, schließlich depressiver Mann, der einige Zeit über die Vollstreckung von Todesurteilen zu wachen hatte, ein Schuft und Patriarch, der totale Unterordnung verlangte. Der Sohn, schwankend zwischen Mitleid, Furcht, Verachtung und Hass, rebellierte früh, verweigerte sich bürgerlichen Zwängen, revoltierte wie viele seiner Generationsgefährten, wie Becher, Hesse oder Bronnen (der Abscheu und Verzweiflung schon im Titel eines Dramas ausdrückte: »Vatermord«). In Berlin kam Heym aufs Gymnasium. Fiel auch dort durch Renitenz auf. Der Deutschlehrer ein »hölzerner Kerl von Pauker«, »ganz nach dem Sinne meines Vaters«. Ins Tagebuch schrieb Heym 1905: »Wenn ich konsequent wäre, müßte ich mir eigentlich unter diesen Umständen das Leben nehmen. Aber ich glaube an mich. Ich werde auch allein meinen Weg gehen können.« Aber erst einmal musste der widerspenstige Sohn, vom strafenden Vater diktiert, nach Neuruppin. Er nannte es sein »Exil« und nahm sich vor, »als ganz krasser Pessimist aufzutreten«. Die Schule empfand er als »Verderb jeden Genies«.

Gunnar Decker, vertieft in die Tagebücher, Gedichte und Novellen, zeichnet das Bild einer krisengeschüttelten, taumelnden Jugend, ihres Elends, ihrer Qualen, ihrer Wut. In Neuruppin lief Heym dauernd mit missmutiger Miene herum und erklärte der Zimmerwirtin, die seinen Ausdruck monierte, fröhlich könne nur sein, wer in diese Atmosphäre passe. Er, nun ganz ohne ein Wesen, mit dem er sich verständigen konnte, war der Fremde, der einsame Bursche mit dem Aufruhr im Kopf und den Träumen voller Todeswünsche. Später, als er in Würzburg die Universität besuchte, konnte er sich nur als Danton sehen, als »Mann auf der Barrikade«, nie ohne Jakobinermütze. Jetzt hoffte er »wenigstens auf Krieg«. Ein höchst widersprüchlicher Bursche, verwegen, verschlossen, eine »grobe Klotznatur«, wie Decker sagt, wild und rau, süchtig nach Liebe, süchtig nach Ruhm, mal in übersteigerter Stimmung, mal depressiv, ein Rasender, der seine wüsten Katastrophenvisionen in grandiose Gedichte und Prosatexte packte, der Tod und Verwesung beschwor, wieder und wieder, ein Dichter, der im Grauen zu Hause war, in den Finsternissen dieser spießigen, versteinerten Gesellschaft, die ohnmächtig dem Krieg entgegendämmerte. Heym, zeigt uns dieses Buch, hatte Verwandte, nahe und sehr ferne, Männer wie Andreas Gryphius, der dem Horror des Dreißigjährigen Krieges Ausdruck gab, oder van Gogh, Baudelaire und Rimbaud. Decker, der immer wieder ganze Gedichte zitiert, öffnet, während er Heyms Lebensgeschichte erzählt, den Blick für die Dimension dieser Dichtung, für den Geist, aus dem sie kommt, für die Fäden, die sie mit Ideen und Anschauungen früherer Jahrhunderte verbindet, mit der Mystik Jakob Böhmes, dem Sprachmagiker Novalis oder den Surrealisten. Heym, der 1908 nach Berlin zurückkehrte, hier weiter studierte, Referendar in Lichterfelde, dann in Wusterhausen an der Dosse wurde und an Pfempferts Zeitschrift »Die Aktion« mitarbeitete, ist in Deckers kluger, konzentrierter, essayistisch-erzählerischer Studie ein Poet und Prosaist der Endzeit, gezeichnet von Schrecken, Tod und Verfall, der Visionär, der im schmalen, epochalen Werk die nahende Apokalypse vorwegnimmt.

Am 2. Juli 1911 hatte Georg Heym einen Traum. Er stand an einem großen See, ging ein paar Schritte und versank, aber er gab sich nicht auf, schwamm und landete in einer sandigen, sonnigen Bucht. Im zugefrorenen Wannsee, anderthalb Jahre danach, war er verloren.

Gunnar Decker: Georg Heym. »Ich, ein zerrissenes Meer«, Verlag für Berlin-Brandenburg, 176 S., geb., 19,95 €.


Georg Heym: Die Morgue (Auszug)

Die Wärter schleichen auf den Sohlen leise,
Wo durch das Tuch es weiß von Schädeln blinkt.
Wir, Tote, sammeln uns zur letzten Reise
Durch Wüsten weit und Meer und Winterwind ...

Vorbei ist unsre Zeit. Es ist vollbracht.
Wir sind herunter. Seht, wir sind nun tot.
In weißen Augen wohnt uns schon die Nacht,
Wir schauen nimmermehr ein Morgenrot.

Tretet zurück von unserer Majestät.
Befaßt uns nicht, die schon das Land erschaun
Im Winter weit, davor ein Schatten steht,
Des schwarze Schulter ragt im Abendgraun.

Zeichnung Heyms im Tagebuch vom 29. 11. 1910
Zeichnung Heyms im Tagebuch vom 29. 11. 1910
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