Verse, die Fenster zerspringen lassen

Daniil Charms: Zu Lebzeiten ungedruckt blieb ein wucherndes Werk

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 8 Min.
Daniil Charms (hier ein Ausschnitt)
Daniil Charms (hier ein Ausschnitt)

Er war ein schriller Typ, ein Bohemien, oft seltsam verkleidet, als Sherlock Holmes, als Riesenbaby mit Schnuller um den Hals, bisweilen saß er auf einem Schrank, einem Baum und deklamierte Nonsensverse: Daniil Iwanowitsch Juwatschow, geboren 1905 in der Zarenstadt St. Petersburg. Er liebte Geräte ohne Funktion, ein Dackel hieß »Brandenburger Konzert«; er liebte Masken, Kostüme, Pseudonyme - Schardam, Dandan, Kolpakow, Karl Iwanowitsch Schusterling, am liebsten aber war ihm ein Name, der an »to harm« erinnert (schädigen, verletzen), sicher an »Charme«: Daniil Charms. So würde er berühmt werden, berühmter noch nach seinem Tod.

Charms lebte in wunderreicher Zeit. Im Geburtsjahr fegte ein Aufstand über die Boulevards der Heimatstadt; der Junge ging auf die deutsche Schule, als eine zweite Revolution den Zaren stürzte. Der Vater - ein verurteilter Zaren-Attentäter - mag sich über den Systemwechsel gefreut haben; der Sohn hatte ein gespaltenes Verhältnis dazu. Er studierte, Elektrotechnik (ohne Abschluss), früh, mit 18, 19, fand er seine Berufung: Künstler zu sein. Je bedrohlicher die Wunder draußen auf den Straßen wurden, desto mehr sehnte sich Charms nach dem richtigen Wunder, einem, das Trost und Glück gibt. Wunder durch Kunst.

»Das Wunder« nannte er - auf Deutsch - eine frühe Zeichnung von einem Sonderling, der auf Sonderbares schaut. Charms zauberte gern, und Zauberhaftes ereignet sich allenthalben in seinen Texten: Leute und Dinge verschwinden, erscheinen, zerfallen und wachsen wieder zusammen. »so ein Mensch ist aus drei Teilen gemacht / drei Teilen gemacht / drei Teilen gemacht / he ullalah / drümm drümm tu tu / drei Teile und schon ein Mensch«.

Für einen Exzentriker, einen Happening-Künstler muss die Zeit kurz nach der Revolution eine gute Zeit gewesen sein. Nie wieder gab es an Newa oder Moskwa eine so wilde avantgardistische Szene. Das surreale, groteske Umfeld hat die Szene geformt (und später vernichtet). Da gab es Elegiker und Akmeisten, Symbolisten und Claristen, es gab Futuristen (wie Wladimir Majakowski) und Zentrifugisten (wie Boris Pasternak). Charms hatte ab 1926 eine eigene Gruppe, OBERIU, die »Vereinigung für reale Kunst«. Auf der Bühne, als Rezitator, war Charms ein doppelter Magier, mit Zaubertricks, mit Worten, er bannte die Zuhörer. Verse wurden Bühnenobjekte, auf Klang und Effekt getrimmt, Charms deklamierte und parodierte mit Wonne; Gedichte, postulierte er, müssten so geschrieben sein, dass, »wenn man sie gegen ein Fenster schmeißt, das Glas springt«.

Den Behörden war das unheimlich. OBERIU wurde 1930 verboten, Charms durfte kaum etwas publizieren - nur zwei Gedichte für Erwachsene sowie Geschichten und Verse für Kinder. Zu Lebzeiten ungedruckt blieb ein wucherndes Werk, in dem die Gattungsgrenzen verschwimmen. Ein Werk, handschriftlich, in Notizbüchern. Wenige Male versuchte Charms, Texte zu bündeln (handschriftlich, in einem Heft), prosaisch, lyrisch, theatralisch, bunt gemischt, es blieb beim Versuch. Erst Jahrzehnte nach seinem Tod erreichte das Oeuvre die Öffentlichkeit. Ab 1978 sollte in der Sowjetunion eine Werkausgabe erscheinen; staatlicher Druck beendete das tollkühne Unternehmen. Ab 1997 erschien in Russland eine Gesamtedition.

Deutsche Ausgaben gibt es in Ost und West seit den Siebzigern ohne Zahl. Und nun ein gigantisches Unterfangen, vier Bände Werkausgabe, das Chaos geordnet, die Genres getrennt, so gut die Herausgeber dies vermochten. Dieser Tage erschien der Abschlussband, »Autobiographisches«. »Prosa«: enthält den einzigen Roman (»Der Alte«, keine dreißig Seiten stark) und ein Konvolut Erzählungen, darunter die Sammlungen »Das himmelblaue Heft« und »Vorfälle«, die Charms selbst zusammengestellte. Die Folgebände zeigen über 200 Gedichte sowie Dramen plus Szenen. Der Band mit Selbstzeugnissen vereint Briefe (u. a. an Pasternak), Tagebücher und philosophische Traktate. Parallel dazu können wir eine Art Biografie lesen - von Marina Malitsch (später Durnowo, 1909-2002), ab 1934 Charms' Ehefrau. Vladimir Glozer, Charms-Experte und erster Herausgeber der Werkausgabe, hat diese Äußerungen in den 90ern in Durnowos venezolanischem Exil aufgezeichnet.

Warum aber - die Frage drängt sich auf - gibt es nach all den Charms-Ausgaben nun noch eine Edition? Weil viel Lesenswertes bislang doch noch nicht übersetzt worden ist. (Jeder Band enthält Erstübertragungen; oft wurden sie leider nicht markiert.) Weil die Lyrik noch wenig bekannt ist, obgleich sich Charms in erster Linie als Lyriker verstand. Weil Co-Herausgeber und Co-Übersetzer Alexander Nitzberg mit bisherigen Übertragungen nicht zufrieden war. Eine gute Übersetzung, so Nitzberg, »sollte, ob in Vers oder Prosa, stets lebendig und rhythmisch sein, die spezifischen Redefiguren getreu nachbilden und möglichst ohne Kommentar auskommen ...« Er wollte den »Sprachartisten« präsentieren, den Künstler, der unmittelbar aufs Publikum wirkte.

Viele Texte bestätigen, was man über Charms hörte oder wusste: dass er ein Meister des Absurden war. Er konnte aber auch sehr feinsinnig sein. Etwa wenn er seine Stadt besang, St. Petersburg, Leningrad. Die Werkausgabe zeigt, wie sich die Genres durchdringen. Sie bringt uns das Phänomen Charms näher: das Leben führte ihm den Stift. Mitreißend und tragisch liest sich, was wir aus Durnowos Quasi-Biografie und den autobiografischen Texten herauslesen.

Wir sehen das Ehepaar Charms-Malitsch in einem Zimmer von kaum fünfzehn Quadratmetern vegetieren; mehr Raum war nicht in der Komunalka, Nadeschdinskaja 11. Wir sehen das Elend wachsen. »Ich weiß nicht, was wir heute essen werden. Wir hungern.« Wir sehen auch den Strom aus Verehrern. Wir lernen den Liebhaber Charms kennen, auch den pornografischen Autor. Und wir spüren seine ambivalente Haltung zum Regime. Er schrieb Agitprop-Gedichte. »Unser schönes neues Land / ist in neuer Lust entbrannt! / Sieh dich um, schon wirst auch du von / einer Woge übermannt!« (Anfang der Dreißiger.) Doch das war womöglich Camouflage. In so manchem Text spürt man bedrängend Metaphorisches (siehe die Minigeschichte von 1940).

Ende 1931 wird Charms verhaftet, verurteilt und verbannt. Grund: »Organisation einer antisowjetischen illegalen Vereinigung von Literaten«. Nach langen Monaten kehrt er zurück. Er hat Angst, »wohin schauen / wem vertrauen / wem die Tür die Seite auftun«. Anfälle von Hybris (»Warum, warum nur bin ich besser als alle anderen?«) wechseln mit Verzweiflung; er ahnt den Absturz. Im August 1937 notiert er: »Eiserne Hände ziehen mich in eine Grube.« Vor allem will er nicht noch einmal ins Gefängnis, und er will nicht zur Armee, nein, er mag nicht in den Krieg ziehen. Und so spielt er das, was linientreue Nachbarn und Beamte in ihm sehen: einen Verrückten.

An einem Samstag Ende August 1941 wird Daniil Charms erneut festgenommen; zwei Wochen später beginnt die Blockade Leningrads. Polizisten durchsuchen das Haus, nehmen mit, was belastend scheint. Das meiste halten sie für Geschreibsel eines Irren; nur fünf von rund vierzig Notizbüchern werden beschlagnahmt. Im September 41 wird Charms für schizophren, im Dezember für geisteskrank erklärt. Man steckt ihn in die Gefängnispsychiatrie. Im Februar 1942 erfährt seine Ehefrau Marina Malitsch endlich, wo er einsitzt. Sie geht zum Gefängnis. Man sagt ihr: Er sei vor Tagen gestorben, vermutlich vor Hunger.

Der Wundertäter, der keiner sein durfte, ist in einem Loch verreckt, doch wenig später ereignet sich ein wirkliches Wunder. Ein Freund geht in Charms' Wohnung, in die ehemalige Wohnung, zerstört von einer Fliegerbombe, und packt ein, was er findet, den Nachlass: vollgeschriebene Hefte und Blätter ohne Zahl. Vielleicht hört der Freund Charms' Stimme, einen Gedanken: »Nehmt mir die Binde von den Augen, und ich geh allein. / Ich geh auf einem Dielenbrett und schwanke nicht, / Über den Fenstersims lauf ich und stürze nicht ab.« In einen Koffer stopft der Freund die Papiere, er trägt sie durch die halbtote Stadt, und dort, im Koffer, bleibt der Nachlass, jahrzehntelang.

1905: Charms wird am am 17. (30.) Dezember als Daniil Iwanowitsch Juwatschow in St. Petersburg geboren.

1915: Charms kommt auf die deutsche Peterschule in seiner Geburtsstadt, bleibt dort bis 1922; er lernt gut Deutsch.

1924: Abitur. Studium am Elektrotechnikum (1926 abgebrochen). Charms begeistert sich für den Futurismus. Erste »transrationale« Gedichte.

1926: In einem Almanach des Allrussischen Dichterverbands wird ein erstes Gedicht gedruckt, »Ein Vorfall an der Eisenbahn«.

Studium am Institut für Kunstgeschichte; Charms lernt den Direktor des Instituts kennen, den Maler Kasimir Malewitsch. Gründung der Künstlergruppe OBERIU (»Vereinigung für reale Kunst«).

1928: Erste Abendveranstaltung der OBERIU. Charms deklamiert eigene Gedichte, verkleidet, auf einem schwarzen Schrank stehend. Die staatlich gelenkten Kritiken sind vernichtend.

Heirat mit Esther Russakowa. Einberufung zum Wehrdienst; kurz darauf wieder entlassen.

1931: Charms wird im Dezember verhaftet, zusammen mit anderen Autoren.

1932: Verurteilung zu Straflager. Verbannung nach Kursk.

1934: Charms heiratet Marina Malitsch. Der Sozialistische Realismus wird Staatsdoktrin.

1935: Malewitsch stirbt. Charms deklamiert auf der Trauerfeier sein Gedicht »Auf den Tod von Kasimir Malewitsch».

1937: Der Große Terror. Auch Mitarbeiter einer Kinderzeitschrift und eines Kinderbuchverlags, für die Charms arbeitet, werden verhaftet, einige erschossen.

1939: Charms kommt kurz in eine Nervenheilanstalt, wird daraufhin vom Militärdienst befreit.

1941: Im Juni entsteht Charms' letzte Erzählung, »Rehabilitierung«. Am 22. Juni überfällt die Wehrmacht die Sowjetunion. Am 23. August wird Charms zum zweiten Mal verhaftet. Der Vorwurf: »Verbreitung defätistischer Propaganda«. Er kommt als »geisteskrank« in die psychiatrische Abteilung des Gefängniskrankenhauses.

1942: Charms stirbt am 2. Februar in der Haft.

Daniil Charms: Werke. Herausgegeben von Vladimir Glozer und Alexander Nitzberg. Verlag Galiani Berlin. Band 1: Trinken Sie Essig, meine Herren! Prosa. Übers. Beate Rausch. 269 S., geb., 24,95 €; Band 2: Sieben Zehntel eines Kopfs. Gedichte. Übers. Alexander Nitzberg. 311 S., geb., 24,95 €; Band 3: Wir hauen die Natur entzwei. Theaterstücke. Übers. Alexander Nitzberg. 343 S., geb., 24,99 €; Band 4: Du siehst mich am Fenster. Autobiographisches. Übers. Beate Rausch. 249 S., geb., 24,99 €.
Marina Durnowo: Mein Leben mit Daniil Charms. Zusammengestellt von Vladimir Glozer. Galiani 151 S., geb., 16,95 €.

Die Popen gehen in die Pilze - Aquarell von Daniil Charms
Die Popen gehen in die Pilze - Aquarell von Daniil Charms
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