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Analphabeten in der »Bildungsrepublik Deutschland«

  • Alexander U. Martens
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit einer Anzeigenkampagne klopfte sich vor wenigen Wochen, »in der Mitte der Wahlperiode«, die Bundesregierung wieder einmal anerkennend selbst auf die Schulter und teilte uns Bürgern u.a. mit: »Unser Land ist auf dem Weg zur Bildungsrepublik erheblich vorangekommen.« Das ist, gelinde gesagt, ziemlich dreist. Denn im Februar sah sich das Bundesbildungsministerium genötigt, das Ergebnis einer selbst in Auftrag gegebenen und mit 1,3 Millionen Euro geförderten Studie der Universität Hamburg bekannt zu geben, derzufolge 7,5 Millionen Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren - das sind 14 Prozent der erwerbsfähigen Deutschen! - funktionale Analphabeten sind. Sie können nur mit Mühe kurze Sätze lesen und schreiben, 2 Millionen können nicht einmal das, 300 000 scheitern schon am eigenen Namen und 21 Millionen machen Fehler auch beim Schreiben durchaus gebräuchlicher Wörter. Das erstaunliche, nein, bestürzende an diesem Befund: Etwa die Hälfte der Betroffenen hat einen Hauptschulabschluss, knapp 20 Prozent sogar die Mittlere Reife!

Wundern sollte man sich darüber nicht angesichts eines überbordenden Bildungsföderalismus, der mittlerweile einen Dschungel von sage und schreibe 96 unterschiedlichen Schularten und -typen gezeitigt hat (den, eingestandenermaßen, selbst der Generalsekretär der Kultusministerkonferenz nicht mehr durchblickt), nachdem jeder der 16 Kultusminister glaubte (und jeder neu ins Amt kommende noch immer glaubt), auf dem Rücken der Schulen jeweils das Rad neu erfinden zu müssen.

Nicht zuletzt das hat dazu geführt, dass man nicht mehr von der einstigen Selbstverständlichkeit ausgehen kann, überall in Deutschland können Grundschüler nach der vierten Klasse lesen und beherrschten die Rechtschreibung. Wie denn auch, wenn mancherorts jahrelang die phonetische Schreibung praktiziert und andernorts die Schreibschrift zugunsten der Druckschrift abgeschafft wird, die Schule selbst also dem Analphabetismus Vorschub leistet und so nicht einmal mehr das Existenzminimum jeglicher Bildung - und Ausbildung - garantiert?

Verwundern dagegen muss, wie wenig vernehmbares Echo das wahrhaft niederschmetternde Ergebnis der Hamburger Studie bei den dafür Verantwortlichen ausgelöst hat. Von erregten Debatten darüber in den Landesparlamenten war jedenfalls nichts zu hören; von einem längst fälligen Versuch, endlich im Interesse aller, Schüler wie Lehrer wie Eltern, unsere unselige schulpolitische Kleinstaaterei zu überwinden, schon gar nicht. Und so steht zu befürchten, dass der »Nationale Pakt für Alphabetisierung und Grundbildung in Europa«, den Bund und Länder im Juni beschlossen haben, von ähnlich durchschlagender Wirkungslosigkeit gekrönt ist, wie die Verpflichtung, die die Bundesregierung 2003 eingegangen ist, die Zahl der Analphabeten hierzulande bis 2012 zu halbieren.

Man kann nur hoffen, dass das Projekt »Lesestart«, mit dem die in Mainz ansässige »Stiftung Lesen« jetzt flächendeckend alle Altersgruppen in Deutschland erreichen will, sich als erfolgreicher erweist. Doch auch die über 20 Millionen Euro, die dafür nun aus Berlin kommen, können natürlich nicht wettmachen, was über viel zu viele Jahre offenkundig von der Politik sträflich vernachlässigt wurde.

Solange noch nicht mal unsere Grundschulen sozusagen ihr Klassenziel erreichen, solange es noch nicht in jedem Bundesland ein vernünftiges Bibliotheksgesetz gibt, das die flächendeckende Grundversorgung mit Büchern vorschreibt, und solange der Staat sich damit begnügt, seine ureigensten bildungspolitischen Pflichten an eine private Stiftung zu delegieren - solange sollte der Begriff »Bildungsrepublik Deutschland« verboten sein.

Der Autor ist freier Publizist und lebt in Ober-Ramstadt.

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