Beim Entern mit sich selbst verstrickt

In den ersten 100 Tagen machten die Piraten fast nur mit Querelen von sich reden

  • Monika Wendel, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.

Ihr eigener Erfolg hat die Piraten in Berlin umgehauen. Aus dem Stand holten sie bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus 8,9 Prozent und zogen erstmals in ein Landesparlament ein. Auf die professionelle Arbeit dort waren die Internet-Experten nicht wirklich vorbereitet. Auch nach den ersten 100 Tagen wirken die Piraten noch oft überfordert, verheddern sich in Regularien, ringen um die Formulierung von Anträgen, die Besetzung von Posten und ihre Auftritte im Plenum. Doch am meisten kämpfen sie mit sich.

Den Strick haben sich die Piraten selbst gedreht. Ihr Hauptanliegen, Politik transparent zu gestalten, macht jeden Fehler, jedes Streiten um Macht und Ämter, jedes Skandälchen sofort im Netz publik. In der 100-Tage-Bilanz der 15 Piraten-Abgeordneten rückt das Private dann auch mehr in den Fokus als politische Inhalte.

Derzeit ist es die Krankheit ADHS, die den Piraten Aufmerksamkeit beschert. Der ambitionierte Abgeordnete Christopher Lauer »outet« sich höchst emotional in einer TV-Dokumentation: Der 27-Jährige leidet am Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom und sagt, er wolle andere ermuntern, offen damit umzugehen.

Der Start im Abgeordnetenhaus ist für viele Piraten - Computerfachleute, Handwerker, Studenten - mühsam, frustrierend und ernüchternd. Doch die Partei will nach dem Berliner Sensationscoup jetzt die Landtage im Saarland und in Schleswig-Holstein erobern. 2013 peilt die Partei den Bundestag an.

Aus Sicht von Politikwissenschaftlern fehlt der Berliner Fraktion ein klares Profil. »Sie haben in den ersten 100 Tagen ihre Rolle noch nicht gefunden«, sagt der Politologe Nils Diederich, der früher für die SPD im Bundestag saß. Gero Neugebauer von der Freien Universität Berlin bezweifelt, dass sich die Piraten dauerhaft in der Parteienlandschaft etablieren können. »Der Protestwähler ist flüchtig«, meint der Politik-Wissenschaftler.

Dennoch hat der große Wahlerfolg der Piraten in Berlin große Zugkraft. Inzwischen hat die 2006 gegründete Partei die Marke von 20 000 Mitgliedern bundesweit geknackt, 8000 neue Mitglieder seien 2011 dazugekommen.

Das Urteil für die Parlamentsarbeit aber fällt kritisch aus. Fraktionschef Andreas Baum spricht von einem Lernprozess. Die Piraten, die meist mit »Club Mate«, Laptop und in Freizeitkleidung anzutreffen sind, müssten jetzt dringend mit ihrer inhaltlichen Arbeit sichtbarer werden, räumt er ein. Aufgefallen sind sie mit Querelen durch eine aus Versehen offengelegte Bewerber-Mail, umstrittene Facebook-Bilder, eine interne Ausspähaktion und andere öffentlich im Netz ausgetragene Streitereien.

Als Fraktionschef agiert Baum aber selber auffallend zurückhaltend. Während bei den Etablierten die Fraktionsvorsitzenden eine Führungsrolle einnehmen, wirkt der Industrieelektroniker, der für ein Jahr als Vorsitzender gewählt ist, in Plenarsitzungen blass. »Wenn jetzt nicht was ganz Komisches passiert, werde ich das schon durchhalten«, sagt er auf die Frage, ob er sich der Aufgabe gewachsen fühlt.

Einigen Abgeordneten scheint die Belastung gehörig zuzusetzen. Der durch seine Latzhosen und das Palästinenser-Kopftuch bekanntgewordene Gerwald Claus-Brunner hatte geklagt, er sei moralisch und seelisch am Ende. Wochen später klingt er optimistischer: »Ich halte durch, weil ich sicher bin, dass ein großer Teil der Basis hinter mir steht.« Andere dagegen nehmen sich eine Auszeit vom Parteiamt - wie die Bundesgeschäftsführerin Marina Weisband, gerne als Gesicht der Partei tituliert.

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