Wanderschaft

Ulrike Beyer ist Korbflechterin - und frei reisende Wander-Gesellin auf der Durchreise

  • Sandra S. Sensmeyer
  • Lesedauer: 6 Min.
Ich kann mir im Moment nicht vorstellen, sesshaft zu sein. Trotzdem ist es immer wieder schwer, loszugehen. Ich habe Abschied auch noch nicht gelernt. Es ist immer wieder Abschied, immer wieder ein erster Schritt, es ist noch keine Routine.«
Die Frau der vielen Abschiede, der vielen ersten Schritte ist gerade mal 26 Jahre alt: Ulrike Beyer, Handwerks-Gesellin »auf der Walz«. Unterwegs in der traditionellen Kluft und mit dem, was sie in ihrer selbstgeflochtenen Weidenkiepe tragen kann. Weiches, rundes Gesicht, die glatten braunen Haare stecken fast immer unter einem Hut; eine große junge Frau, stämmig. Die Gesellin fällt auf. Meist sind es Männer, die unterwegs sind, Zimmerleute oder auch Maurer. Sie sind zu erkennen an ihrem schwarzen Hut, den dunklen weiten Cordhosen, dem weißen Hemd, der schwarzen Weste. Aber eine Frau? Nun, sie wisse nicht, wie es sei, als Mann zu reisen, sinniert die Korbflechterin. Sie lasse sich nicht in der Kneipe auf eine Übernachtungsmöglichkeit ansprechen wie die Gesellen. Unannehmlichkeiten erspare ihr wohl auch ihre Menschenkenntnis und ihr Auftreten. Und schließlich ist auch der »Stenz« immer dabei, ihr Ehrfurcht gebietender knotiger Wanderstock.

Den ersten Schritt macht man im Kopf

Ruhig, kraftvoll, sanft - Ulrike Beyer ist präsent, ohne wirklich da zu sein. Den Blick auf ihr Gegenüber gerichtet, schaut sie doch in sich selbst hinein. Sie wirkt wie ein Bild aus längst vergangenen Zeiten, wie eine Art Zeit-Reisende. Auf ihrem Rücken trägt sie nicht nur ihre Habseligkeiten mit sich herum, sondern auch die jahrhundertealte Tradition der »Walz«. Seit dem 14. Jahrhundert wandern die Ausgelernten; früher galt sogar der Wander-Zwang. Der Handwerker sollte in der Fremde reifen, seine Kenntnisse erweitern, bevor er sich sesshaft machen und Meister werden durfte. Heute wandern jährlich noch etwa sechshundert Gesellen - und Gesellinnen.
Wer wandern will, macht den »ersten Schritt« im Kopf. »Anstrengend« sei es gewesen, erzählt Ulrike Beyer: »Es ist eine ziemlich heftige Entscheidung. Du gibst alles auf, weißt, dass du nicht nach Hause kommst, verlässt deine Freunde, deine Familie, löst alles auf.« Das war vor zwei Jahren in Freiburg. Gesellenbrief in der Tasche, »frei und ohne Schulden« - unverheiratet, ohne Kinder, nur für sich selbst verantwortlich: Grundvoraussetzungen für die Wanderschaft. »Wann genau ich losgehen wollte, wusste ich vier Monate vorher, und dann war es halt vier Monate Abschied leben. In einer Zwischenwelt sein: Nicht mehr ganz sesshaft, aber noch nicht ganz losgegangen.« Sie brachte ihre Sachen zu Verwandten, schlief auf der blanken Matratze. An Walpurgis hat sie Abschied gefeiert: »Ein großes Fest. Es waren viele Leute aus Freiburg dabei, Freunde und Gesellen. Der nächste Tag war zum Ausruhen, am Montag habe ich meinen Korb gepackt und bin los.«

Die Landkarte lesen wie einen Roman

Ulrike Beyer hat sich für »Drei Jahre und einen Tag« entschieden, das ist ihre Mindestwanderzeit. Vorher darf sie nicht nach Hause und darf auch die »Bannmeile« von fünfzig Kilometern um ihren Heimatort nicht betreten. Für Reise und Unterkunft darf sie nichts ausgeben, nicht länger als drei Monate an einem Ort bleiben und denselben Ort erst nach einem Jahr wieder besuchen. Die Walz hat feste Regeln, die meist mündlich überliefert werden. »Es ist Tradition, dass man die Bannmeile zu Fuß verlässt. Da sind die Gesellen auch mitgekommen. Das hat eine ganze Woche gedauert.« Die »Altgesellen« bringen den Neulingen am Anfang die Sitten und Gebräuche der Straße bei - und Rotwelsch, ein Gemisch aus Jiddisch, Deutsch und der Sprache der Roma.
Lassen die Wanderer ihre Vergangenheit hinter sich, oder kommt sie wohl huckepack mit auf die Reise? Handwerk und Wandern wurden Ulrike Beyer jedenfalls nicht in den Weidenkorb gelegt. Geboren und aufgewachsen in Berlin-Ost, nach dem Abi zwei Jahre Arbeit in Gärtnereien - und dann, per Zufall: das Flechten. Eine Freundin erzählte ihr von der einzigen staatlichen Berufsfachschule für Korbflechterei; sie bewarb sich und wurde angenommen. Nach zwei Jahren brach sie die Schule ab, absolvierte das dritte Lehrjahr in einer Werkstatt in Freiburg. Irgendwann kam die große Frage: Was jetzt? »Viele arbeiten in Blindenheimen oder Rehabilitationszentren; ganz Mutige machen sich selbstständig, finden ihre Nische. Es ist in diesem Beruf sehr schwer. Deswegen bin ich auch auf Wanderschaft: Um "Meins" zu finden.«
Schritt für Schritt auf dem Weg zu sich selbst - und zu den anderen. Wer kein Geld ausgeben darf, muss wandern, trampen, fragen, und das Übernachtungsproblem stellt sich manchmal jeden Abend. Das bedeutet, immer wieder auf Menschen zugehen, immer wieder eine Grenze durchbrechen. Meist sind es Handwerksmeister, Pfarrer oder Bauern, die von Gesellinnen und Gesellen um ein Nachtlager gebeten werden. Aber es gibt auch ganz unerwartete Begegnungen, wie in dem Ort, in dem eine geplante Übernachtung nicht klappte: »Da stand ich dann und dachte: Huch, und jetzt? Auf einmal hat mich eine Frau angelächelt, und die habe ich dann gefragt. Ich konnte ins Gästezimmer, und da war ein gemachtes Bett«.
Ulrike Beyer lächelt. Holt ihr Klappmesser aus der Tasche und schält sich einen Apfel, mit weichen Bewegungen, ohne hinzuschauen. Eins, meint sie, habe sie in den vergangenen zwei Jahren auf jeden Fall gelernt: Für sich selbst zu sorgen. Herauszufinden, was sie will, was sie braucht und wie sie es bekommt. Und sie liebt ihre Art der Fortbewegung. »Wanderschaft bedeutet auch, im Jetzt zu leben. Es hat einen sehr großen Reiz, Schritt für Schritt weiterzukommen.« Mit Terminkalender reist sie ungern und nur dann, wenn wichtige Flechtertreffen oder Märkte anstehen. Ein Handy? Um Himmels Willen - »dann wäre nicht mehr viel da von der Freiheit«. Ihre Kontaktadresse weiß immer, wo sie gerade ist; wenn sie irgendwo länger bleibt, lässt sie sich ihre Post nachschicken. Ansonsten ist sie frei, zu gehen, wann und wohin sie will. Und das hat sie gemacht: »Quer durch Deutschland, von Flensburg bis zum Bodensee, von Aachen bis Dresden. Deutschland ist kleiner geworden«.
Die weiteste Reise führte sie über die Grenzen Deutschlands hinaus bis nach Finnland. »Ich liebe Landkarten, ich reise mit einer relativ großen Landkarte und könnte die wie einen Roman lesen. Dadurch, dass jetzt überall schon Erinnerungen sind.« Wege und Begegnungen überraschen sie immer wieder: »Es ist spannend, mitzubekommen, wie viele Welten es gibt. Das ist der Hammer. Und die existieren echt alle nebeneinander«.

Das Gefühl für Zeit verändert sich

Das Wandern und die Freiheit des Augenblicks als Idealzustand - gibt es nichts, was fehlt? Schon, räumt die Gesellin ein. Regelmäßige soziale Kontakte und Vertrautheit, das vermisse sie. Aber das Gefühl für Zeit verändere sich; mit alten Bekannten ließe sich der Faden auch noch nach einem Jahr wieder aufnehmen. Und Liebe? »Hat man, oder?!« Ulrike Beyer lacht schallend, weiche Kiekser von ganz tief unten aus dem Bauch heraus. Mit Beziehungen sei es aber schwierig. »Wenn der andere sesshaft ist und man immer wieder zu dem Punkt zurückreist - das ist einengend. Es ist zwar hart, aber Sehnsucht macht auch unfrei.«
Ein Ziel ist wichtig, um loszugehen, aber es muss nicht unbedingt weiterverfolgt werden. Pläne sind unbedeutend, weil doch immer etwas anderes passiert. Und ankommen, das will die Korbflechterin noch lange nicht. Sie macht nur Zwischenstationen. Wie auch in Bielefeld: Zwei Monate war sie hier, lernte bei einem Obstgärtner, Bäume zu beschneiden, verdiente Geld für die Reise. Weiter ging es, durch den Teutoburger Wald: erst ins Wendland, dann nach Rostock. Dort wird jetzt ein riesiger Weidendom errichtet, das größte lebende Bauwerk der Welt, eine wachsende Kathedrale. Fünfhundert freiwillige Helferinnen und Helfer aus ganz Deutschland und dem Ausland sind dabei. Ulrike Beyer will eine von ihnen sein. Irgendwann wird es »wieder jucken, dann will ich wieder los.«
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