Zwischen Dunkelheit und Tag

Katherine Mehrling ist im Wintergarten »Am Rande der Nacht«

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach der fabelhaften Meret Becker wieder eine Personalshow im Wintergarten. Die Königin des neuen Programms heißt Katharine Mehrling, auch sie Schauspielerin mit Schwerpunkt Musical, das sie in London und New York studierte. In Berlin reüssierte sie als Edith Piaf, Irma la Duce, Sally Bowles. Und ist verliebt in den Moment zwischen Dunkelheit und Tag. Daraus strickte sie mit Regisseur und Ausstatter Stephan Prattes das Buch für die Show. »Am Rande der Nacht« heißt sie, basiert auf der gleichnamigen CD und einem daraus hervorgegangenen Konzertabend. So entstehen Ideen fürs Varieté.

Das erobert sich Mehrling mit ausgesuchten Gästen, an erster Stelle Rolf Kühn, mit dem zusammen sie die CD schrieb. Ein Team aus neun weiteren Künstlern sowie Band unter Harry Ermer hat sie um sich geschart, um jene Idee umzusetzen. Im schwarzen Trenchcoat tritt Mehrling fast unscheinbar aus der Tür, über der »Tag« steht, begibt sich in die Verlockungen der Nacht. Chansonesk, angejazzt und mit düsterem Text singt sie, klein, schmal, das blonde Haar straff zurückgekämmt, wie schön es wäre, mit jemandem zu reden, geht kurz auch in den Saal. Um dann gleich ins südamerikanisch Heiße überzuleiten.

Da hat sich die Szene bereits zwanglos belebt, flankieren sie zwei Tänzer, sitzen Artisten an Tischen. Aus der Baratmosphäre entwickelt sich, was die nächsten zweieinhalb Stunden abläuft. Mehrling plaudert über den alten Wintergarten, rutscht in die Rolle der russisch gedrillten Messerwerferin mit Malheur und kündigt Artisten an: Aus deren Kiste brüllt ein Löwe. Wer dann erscheint, ist ein Löwe seines Fachs, Rolf Kühn, der fast 83-jährige Altmeister der Jazzklarinette. Mit seiner Familie trat er als Kind im Wintergarten auf, machte eine Weltkarriere als Musiker, begeistert den ganzen Abend lang mit differenziertem Spiel. Du bist so lecker, stöhnt Mehrling und meint damit den Mann, der zu ihrem Song am chinesischen Mast tanzt, bis unter die Kuppel, figurenreich und mit rasanten Überkopf-Abrutschern. So eingebunden in Mehrlings Moderation sind auch die folgenden Darbietungen, was dem Abend tatsächlich ein Konzept gibt. Über den Nachtclub der Eltern berichtet sie und gelangt so zu einer Großen jener Ära: Caterina Valente. Südamerikanisch wird es da wieder, mit »Spiel noch einmal für mich, Habanero« oder »Tipi tipi tip«, und erinnert in frischem Gewand an längst vergessen geglaubte Hitparadenerfolge. Ob es allerdings der derb frivolen Coitus-Posen bedarf, mit der Danny Costello als Choreograf gern seine Schlüsse würzt, darf gefragt werden. Mit »Malaguena« in spanischer Sprache landet Mehrling, umstrahlt von Lichtbündeln, dann den nächsten Treffer.

Den artistischen Treffer des Programms landet das Moskauer Duo Artemiev in kaum überbietbarer Perfektion, schier unglaublicher Vielfalt an Figuren und riskanten Umgriffen am Trapez, alles in immensem Tempo, heiß wie der begleitende Tango, dabei poetisch im Partnerspiel. Eleganter, charmanter und spektakulärer kann Artistik nicht sein. Mehrling bleibt nur noch, die Mondgöttin anzukündigen. Als die schwebt sie nach der Pause in glitzernder Sichel, aus der herunter sie ihr Pianola anpreist, »Von Kopf bis Fuß« zum Marlene-Medley ansetzt, als Magierin fungiert. Und ihr komödiantisches Talent zum Besten geben kann. Wenn sie mit den Messern liebäugelt, in verschiedene Sprachen und Dialekte umschlägt, Londons spitzmündigen Jargon, den Akzent dort lebender Inder imitiert, als schwuler Cowboy aus New York schluchzt, sogar, wer hätte das erwartet, süddeutsch jodelt, dann ist sie auf dem Höhepunkt ihres eigenen Abends angelangt. Selbst Schweizerisch kann sie, mit dem Sächsischen aber klappt es so wenig wie mit ihrem Spiel auf dem Akkordeon. Übel nimmt ihr das keiner: Das eingestanden Unvollkommene ist menschlich. Ein Star aus der Provinz, wie sie ironisch singt, ist sie keinesfalls.

In der eingangs präsentierten Kiste sitzt Fleeky, der androgyne Kunst-Rotschopf aus Amerika, der mit tierhafter Geschmeidigkeit Equilibristik und Kontorsionistik verbindet und rätselvoll wie ein Fremdwesen wirkt. Das führt zum Chanson, wie es Mehrling besonders gut interpretiert und sich als szenische Verstärkung den Franzosen Serge Huerico holt: Seine verblüffenden Künste auf, mit und unter dem Rad imponieren der Frau im Trenchcoat, die dann zu Musette-Klang um den Tod des Vaters klagt. Hin zu Fröhlichkeit führen Los Saly, Bola-Bola-Virtuosen aus Italien, mit dem Wirbel ihrer Hartplastikkugeln. Weiteres Highlight in einem angenehm temperierten und tarierten Programm: Katherine Mehrlings Piaf-Reminiszenz mit »Milord« als hoch energetische Zugabe.

Bis 14.4., Wintergarten, Potsdamer Str. 96, Charlottenburg, Kartentelefon 58 84 33, www.wintergarten-berlin.de

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