Optisches Fest

Der bekannte unbekannte Edvard Munch in der Schirn

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 5 Min.

Er hatte in Asgardstrand, einem kleinen Fischerdorf an einem Fjord außerhalb von Oslo, ein Sommeratelier. Eine trostlose Gegend. Er machte sie zu einer der symbolhaften Landschaften des modernen Geistes und zum Sinnbild für Entfremdung, Verlorenheit und Sehnsucht. Die Personen, die in einem schrankenlos ich-bezogenem Trancezustand auf das Meer hinausblicken, sind vielleicht die letzten Nachfahren der melancholischen Rückenfiguren in der romantischen Malerei, aber die Landschaft ist keineswegs der Ort der Handlung für die Gestalten, sondern der Hintergrund eines bedrückenden Seelenzustandes.

Edvard Munch war eine Verkörperung des Expressionismus, bevor dieser noch einen Namen hatte. Sein Ich galt ihm als der einzige sichere Hort in einer sonst feindlichen Welt, und doch handeln einige seiner bewegendsten Bilder von dem pessimistisch zarten Versuch, die Kluft zwischen dem Ich und dem Anderen zu schließen.

Fast alle seine Gemälde und Blätter kann man in den Ablauf eines ganzen Menschenlebens zyklisch gruppieren. Seine vor und nach der Jahrhundertwende entstandenen Werke werden gerühmt, aber seinen späteren Werken hat man weniger Beachtung geschenkt. Sein Arbeitsleben reichte bis in die 1940er Jahre, er ist viel in Europa gereist, hat aufmerksam die Tendenzen avantgardistischer Kunst zur Kenntnis genommen, sich der Fotografie, dem Film und Theater gewidmet und die Anregungen der neuen Medien in sein sich wieder entschlossener der Wirklichkeit zugewandten Spätwerk aufgenommen. Und darum geht es der jetzt in der Schirn Kunsthalle Frankfurt gezeigten Ausstellung: Der Blickwinkel auf Munch soll erweitert werden. Erstmals wird dessen Auseinandersetzung mit visuellen Medien, modernen Aufnahmetechniken und zeitgenössischen Bühnenbildern vorgestellt. In welchem Maße hat er spezifisch fotografische oder filmische Bau- und Erzählformen in sein Spätwerk übernommen? Munch - so die zugrunde liegende Konzeption - ist nicht nur symbolistischer und präexpressionistischer Maler des 19. Jahrhunderts, der der Kunst eines Vincent van Gogh und Paul Gauguin zuzuordnen ist, sondern er hat auch die Kunst des 20. Jahrhunderts nachhaltig geprägt, sein Todesjahr 1944 war auch das Wassily Kandinskys und Piet Mondrians.

Immer wieder hat Munch bestimmte Motive und Bildthemen aufgegriffen, und so liegen sie in gemalter, gezeichneter und lithografierter Version vor: Vom »Kranken Kind«, Munchs zentralem Gemälde der frühen Jahre, entstanden allein sechs Gemälde - »bis zum letzten Schmerzensschrei« habe er sein Motiv durchlebt, wird Munch später bekennen. Von den »Mädchen auf der Brücke« schuf er sieben Bilder und fünf von deren Abwandlung »Frauen auf der Brücke«. Vom »Vampir« entstanden acht Gemälde und das sich umarmende Paar »Der Kuss«, in deren verzweifelter Umarmung schon die später um so heftiger aufbrechende Kluft spürbar wird, gibt es in zehn Varianten.

Nicht so sehr die Erinnerungsarbeit spielt hier eine Rolle, sondern die Weiterentwicklung und Veränderung des Motivs über die Jahre hinweg. Nach Belieben setzt der Künstler sie in einen neuen Zusammenhang. Sie werden zu Versatzstücken, erhalten, wie der »Kuss« oder der »Vampir«, ein anderes Bühnenbild, doch der Titel des »Theaterstücks« bleibt erhalten. War sich Munch schon des ikonischen Wertes seiner Motive bewusst, hat er sie als eine Art Markenzeichen eingesetzt: »Der Schrei« für die Angst, »Madonna« für Ekstase und das »Selbstporträt mit dem Skelettarm« für den Tod?

Wie in der Malerei hat Munch auch in der Fotografie sein Leben in Bildern festgehalten. Er fotografierte sich auch inmitten seiner Gemälde, so dass es mitunter scheint, als posiere der Maler zusammen mit ihnen für ein Gruppenporträt. Mittels der Fotografie stellt er so einen spielerischen Dialog mit seinen eigenen Werken her. Parallel zu den Selbstporträts oder den Selbstinszenierungen mit Gemälden fotografierte Munch seine Arbeiten auch immer wieder allein, sie muten wie Porträts von Gemälden an.

Munchs fotografische Produktion spiegelt - ähnlich wie die des schwedischen Dramatikers Strindberg - eine Obsession für das Selbstporträt wider. Hatte er im 19. Jahrhundert nur wenige Selbstbildnisse geschaffen, so stieg ihre Zahl von 1900 bis 1944 auf mehr als 40 . Er ist der erste Maler, der seine seelische Verfassung - seine Auseinandersetzung mit Krankheit, Einsamkeit, Älterwerden und Tod - bildlich derart umfassend analysiert und in vielfältigen Nuancen ausgelotet hat. An den Selbstbildnissen kann man verfolgen, wie er den Bildaufbau und den oft bühnenartigen Bildraum mit größtmöglicher Dramatik aufgeladen hat. Munchs Interesse für das zeitgenössische Theater und seine Erfahrungen mit Bühnenbildentwürfen für Max Reinhardts Deutsches Theater in Berlin kamen ihm dabei zu Hilfe. Der Bildraum wird gleichsam zum Bühnenraum. Die Kulissen verwandeln sich im Zusammenspiel mit den Requisiten zu dramatischen Akteuren. Auf dem Gemälde »Hass« füllen zwei riesige Köpfe in extremer Nahsicht fast das ganze Bildfeld aus. In »Eifersucht« überträgt der intensive Blick aus dem wie losgelöst wirkenden Gesicht die Beklemmungen des Eifersüchtigen auf den Betrachter. Der Bildraum in »Mord« und »Begierde« setzt sich durch den ins Blickfeld des Zuschauers hineinragenden Tisch im realen Raum fort. Es ist, als ob der Zuschauer die Szenen wie am Tisch sitzend betrachtet. Munch verlässt in seinen Bildexperimenten die Sicht aus einer einheitlichen Perspektive und verbindet Aufsichten mit Untersichten. Auch dass er so häufig auf die spektakuläre, dynamische Kompositionsweise der illustrierten Presse und des Kinos zurückgriff, diente immer wieder dem Ziel, die Beziehung zwischen Werk und Betrachter maximal zu intensivieren.

In dem Gemälde »Arbeiter auf dem Heinweg« von 1913/14 nimmt der Betrachter die Szenerie einer vorwärtsschreitenden Menschenmasse nicht mehr aus der Distanz wahr, sondern wird selbst zu einem Teil der Bewegung. Die Figuren, die vor der Jahrhundertwende noch reglos, erstarrt oder versunken waren, werden später immer in Bewegung dargestellt, sie gehen auf den Betrachter zu und blicken ihm gelegentlich sogar direkt ins Gesicht. Er wollte den Betrachter ins Zentrum des Gemäldes setzen, ihn nicht mehr, wie er das vormals getan hatte, ins Gemälde suggestiv hineinziehen, sondern durch optische Verzerrungen eine gegenläufige Bewegung erzeugen, in der das Werk selbst sich auf den Betrachter projiziert. Mit der Zuwendung zu Kompositionsprinzipien, die eher zentrifugal als zentripetal ausgeführt sind, so zeigt die Ausstellung nachdrücklich, wird Munch zu einem ausgesprochen modernen Künstler.

Die Ausstellung im Vorjahr des 150. Munch-Jubiläums wurde bereits im Centre Pompidou in Paris gezeigt und geht dann nach seiner zweiten Station in der Schirn Frankfurt nach London an die Modern Tate Gallery weiter.

Edvard Munch: Der moderne Blick. Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main, Di, Fr-So 10-19 Uhr, Mi und Do 10-22 Uhr, bis 13. Mai. Katalog.

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