»Unübersichtliches Tatgeschehen«

Ermittler: Erstochener 18-Jähriger war in Neukölln an Streit beteiligt

  • Julian Mieth, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.

Der in Neukölln erstochene 18-Jährige war wohl nicht Opfer eines tragischen Streits. Nach neuen Zeugenaussagen soll der Jugendliche deutlich aggressiver an der vorausgegangenen Auseinandersetzung beteiligt gewesen sein als bislang angenommen. »Es gibt Erkenntnisse, wonach das Opfer nicht als Schlichter, sondern durchaus aktiv an dem Geschehen beteiligt war«, sagte Staatsanwaltschaftssprecher Martin Steltner am Dienstag. Das widerspricht der bisherigen Auffassung, wonach der im Viertel als friedlich geltende 18-Jährige eher zufällig in den Konflikt geriet.

Die Staatsanwaltschaft bleibt darum bei ihrer Auffassung, dass der 34 Jahre alte mutmaßliche Täter bei der Auseinandersetzung vor einem Haus in der Fritzi-Massary-Straße aus Notwehr handelte. Deshalb wurde bislang kein Haftbefehl beantragt und der Mann aus Sorge vor Vergeltung an einen sicheren Ort gebracht.

Nach Steltners Worten war der 18-jährige Deutsch-Libanese einer von drei Vertretern einer etwa 20-köpfigen Gruppe gewesen, die den 34-Jährigen verfolgt hatte. Sie sollten den Konflikt mit dem Mann unter der Vermittlung eines unbeteiligten Passanten klären. Bei dem Gespräch sei es dann aber zum Angriff auf den 34-Jährigen gekommen, der sich wehrte und einen Schädelbasisbruch davontrug. Inwiefern der 18-Jährige dabei genau beteiligt war, ist indes weiter unklar. Im Viertel galt er als freundlich und engagiert.

Den Ermittlern bereitet derzeit Probleme, dass die vielen Zeugen immer wieder andere Versionen des Tathergangs erzählen. »Es gibt unterschiedliche Aussagen zu dem sehr unübersichtlichen Tatgeschehen, das auch noch an mehreren Orten stattgefunden hat«, sagte Steltner. »Die Befragung wird sich noch einige Zeit hinziehen.«

Weil die Polizei in dem Fall nicht weiterkam, sollte eigentlich der Tatablauf nachgestellt werden, um die Schuldfrage zu klären und ob der Junge wirklich aus Notwehr getötet wurde. Ob und wann es dazu nun noch kommt, wurde nicht bekannt. Laut Staatsanwaltschaft ist dies ein normaler Ermittlungsvorgang. Der mutmaßliche Messerstecher ist den Behörden nicht unbekannt. 2009 wurde er wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt.

Sozialarbeiter aus dem Viertel befürchten trotz der neuen Erkenntnisse keine Racheaktionen. »Die Jugendlichen aus dem Viertel haben sich immer wieder von Vergeltung distanziert, weil das der Vater des toten Jungen will«, sagte der Projektleiter der mobilen Jugendarbeit Outreach, Ralf Gilb. Dass sich die Leute daran hielten, sei bei der friedlichen Beerdigung mit mehr als 3000 Menschen am vergangenen Freitag deutlich geworden. »Zudem ist eine für Montag angekündigte Hass-Demo nicht zustande gekommen.«

Auch auf der Beisetzung hatte der Vater des Toten sich erneut gegen jede Gewalt ausgesprochen und dazu aufgefordert, »über den Tod nachzudenken«. Die Jugendlichen beschäftige derzeit, welchen Sinn Gewalt habe. »So schrecklich der Todesfall für sie auch ist, sie können auch daraus lernen«, sagte Gilb. »Sie müssen verstehen, dass man Konflikte ohne Waffen lösen kann. Dann wäre der Junge wohl nicht gestorben.«

Nach gegenwärtigem Ermittlungsstand war am 4. März zum Streit unter Fußballern gekommen. Der unbeteiligte 34-Jährige und ein Freund sollen versucht haben zu schlichten, zogen aber den Zorn auf sich. Sie flüchteten in das Haus in der Fritzi-Massary-Straße. Dort versammelten sich bis zu 20 mit Messern, Dolchen und Totschlägern bewaffnete Verfolger und forderten sie auf, vor die Tür zu kommen.

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