Nähen ist politisch

Linda Gaylord betreibt in Schöneberg einen kleinen Stoffladen

  • Nissrine Messaoudi
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Unternehmerin bei der Arbeit mit Nadel, Faden und tollkühnen Stoffen
Die Unternehmerin bei der Arbeit mit Nadel, Faden und tollkühnen Stoffen

Punkte und Karos, rote Eulen und Gießkannen. Wenn man den kleinen bunten Laden »Volksfaden - tollkühne Stoffe« in der Crellestraße in Schöneberg betritt, weiß man gar nicht, wo man zuerst hingucken soll. Auf den Regalen, rechts und links an der Wand, stapeln sich Baumwollstoffe in allen erdenklichen Farben und Mustern. Hier und da stehen sogenannte Ugly Dolls (übersetzt: hässliche Puppen), gibt es kleine Kissen, Wandschmuck und Taschen. Sie zeigen, wie unbegrenzt die Möglichkeiten sind, aus Stoff etwas Ungewöhnliches und Originelles zu schaffen.

Das gemütliche und lebendige Stübchen ist mehr als ein Geschäft. Denn für die Inhaberin Linda Gaylord ist »Nähen eine politische Entscheidung«, sagt die 53-Jährige mit einem Lächeln. Die gebürtige New Yorkerin betreibt seit 2007 den Onlineshop »Volksfaden«. Juli letzten Jahres eröffnete sie dann das kleine Geschäft in der Crellestraße. »Wenn man selber Sachen näht, kann man sicher sein, dass man mit den Produkten keine Ausbeutung oder Kinderarbeit unterstützt«, erklärt Gaylord.

Ihre Produkte wählt die engagierte Unternehmerin eigenhändig aus. Die Stoffe sind alle aus hundertprozentiger Baumwolle und wurden von Designern aus den USA, Europa und Japan entworfen. »Mir war es von Anfang an wichtig, auch organische Stoffe anzubieten.« Leider sei die Auswahl an biologischen Stoffen begrenzt. Die Preise seien entsprechend höher und »nicht jeder Kunde ist bereit, mehr zu bezahlen«. Trotzdem sind die Menschen, die bei Linda Gaylord einkaufen, »Menschen, die erst überlegen und dann konsumieren«, ist sich die Wahl-Schönebergerin sicher.

Mit ähnlichen Geschäften, die in den letzten Jahren in Prenzlauer Berg oder Friedrichshain-Kreuzberg eröffnet haben, kann die Unternehmerin nicht mithalten. »Die Touristen und Neu-Berliner kaufen natürlich eher dort ein. Die Crellestraße hat nun mal nicht viel Laufpublikum. Ohne den Onlineshop könnte ich mich deshalb nicht über Wasser halten.« Trotzdem fühle sie sich in ihrem Kiez wohl und vom Konkurrenzdenken hält Gaylord ohnehin nicht viel. Das sei auf Dauer nur destruktiv. Deswegen pflegt die 53-Jährige auch gute Kontakte zu Inhaberinnen anderer Näh- bzw. Stoffläden in der Nachbarschaft. Zum Internationalen Frauentag beispielsweise haben die Frauen gemeinsam 30 »Ugly Dolls« für Amnesty International genäht.

Attraktiv an Schöneberg sei die gesellschaftliche Mischung. »Das erinnert mich stark an die Upper West Side der 70er Jahre«, findet die New Yorkerin. Auch wenn es dem »Volksfaden« finanziell eher gut tun würde, hofft Gaylord, dass der Kiez von Entwicklungen wie in Prenzlauer Berg verschont bleibt. »Diese Gentrifizierung habe ich schon in New York erlebt. Ich habe auch viele Bekannte, die es in Prenzelberg nicht mehr aushalten können und hierher ziehen.«

Linda Gaylord hat in ihrem Leben indes schon viele Veränderungen miterlebt. Als ausgebildete Tänzerin musste sie sich in New York mit Gelegenheitsjobs als Verkäuferin oder Kellnerin über Wasser halten. »Es war nicht leicht, aber damals konnte man trotzdem irgendwie über die Runden kommen. Das ist heute undenkbar.« Um ihrer Leidenschaft - dem Tanzen - nachzugehen, verließ sie Ende 1979 die »City« und ging nach Lissabon. Dort schloss sie sich einer freien Tanzgruppe mit dem Namen »Der kommunistische Bund« an. Davon leben konnte sie jedoch nicht. »Das Publikum bestand meist nur aus wenigen Freunden«, erzählt Gaylord und schüttelt lachend den Kopf.

Über mehrere europäische Städte kam sie in den 80er Jahren nach Bochum, wo sie eine Stelle als Tänzerin fand. »Ich erinnere mich sehr gut daran, als ich mit der Gruppe 1989 durch die DDR getourt bin. Es war zwar grau, aber die Menschen sind uns mit einer Offenheit und einem Interesse begegnet, das ich bis dahin nur selten erlebt hatte.«

Seit 1995 lebt Linda Gaylord in Berlin. Sie arbeitete unter anderem als Choreographin und entschied sich »nach einer schrecklichen Produktion« ihre Theatertätigkeit an den Nagel zu hängen. »Da meine Mutter früher selbst alles genäht und mir das Handwerk beigebracht hatte, bekam ich die Idee, den Onlineshop zu gründen.« Die Nachfrage wuchs stetig und Linda Gaylord wollte ihren eigenen Laden, »wo man die Stoffe auch anfassen kann«.

Ihre Kreativität hat die ehemalige Tänzerin beibehalten. Ausdrucksstark ist sie geblieben, ob beim Tanzen, Nähen oder Erzählen.

»Volksfaden - tollkühne Stoffe«, Crellestraße 17, 10827 Berlin, Di.-Fr. 10-18 Uhr, Sa. 10-16 Uhr, Telefon: (030) 72 29 70 57, www.volksfaden.de

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