Moskau war ein Wunschziel, Psychologie kam zufällig dazu

Die Rostockerin Rosina Neumann will in den Bundestag einziehen

So könnte der Hintergrund für große Oper aussehen. Die Sonne geht in mildem Rot unter, als wäre sie als Lampion für ein japanisches Kirschblütenfest engagiert. Wenn jetzt noch ein Ozeandampfer um die Ecke böge und die Primadonna die Klage der verlassenen Geisha aus »Butterfly« anstimmte, wäre das Bild perfekt. Nur werden die großen Dampfer schon in Warnemünde abgefangen und angedockt. Im alten Hafen von Rostock gleiten abends nur die kleinen und sich ewig ähnelnden Rundfahrtschiffe über das Wasser. Zum romantischen Bild im alten Hafen tragen eher die Altsegler bei, die vorübergehend oder für immer vor Anker liegen. Unerwartet hoch her geht es beim Italiener am unteren Ende des Hafens. Eigentlich sind alle Tische auf der Terrasse bereits besetzt: »Sie sind zehn Personen? Kein Problem, wenn sie eine einzige Minute warten wollen«, sagt der Patrone und winkt seinem Personal. Das Personal erscheint, als hätte es solche Szenen lange geübt und nur auf solchen Auftritt gewartet, mit zwei Tischen. Ein junger Kellner trägt hoch über seinem Kopf in einer Hand vier Stühle, in der anderen zwei. Man könnte also auch »Carmen« geben. Ein zweiter Mann bringt die restlichen vier Stühle, die Kellnerinnen diskutieren derzeit mit den Gästen über die Weinauswahl. Je mehr Leute Plätze suchen, desto stärker gerät das Personal in Fahrt. Weitere Tische werden herangeschleppt. Innerhalb einer Stunde hat sich das Platzangebot verdoppelt. Auch solche Gäste werden zwischendurch bedient, die bloß mal vorbeikommen und eine Pizza für unterwegs auf die Hand oder für den Teller zu Hause benötigen. Das Personal wirkt, als wäre es hochmotiviert. Motivationstraining ist für Rosina Neumann Arbeit. Die Rostockerin trainiert derzeit Studenten an der Uni. Ihren ersten Auftritt in diesem Bereich hatte die ausgebildete Diplompsychologin am Magdeburger Schwermaschinbaukombinat, abgekürzt SKET, noch zu DDR-Zeiten. Die junge Frau besaß damals schon einen Doktortitel, aber richtige Manager hatte sie noch nicht belehrt. Da sei ihr Vorteil gewesen, dass sie nie rot werde, untertreibt die Rostockerin. Zur Psychologie ist sie eher per Zufall gekommen. In der DDR war dieses Fach nie eine große Nummer. Die Abiturientin wollte Russischlehrerin werden und in Moskau studieren. 1974 gab es ein Studienangebot für die Moskauer Lomonossow-Universität, Bereich Biologie. Rosina Neumann bewarb sich. Erst die Aufnahmekommission erklärte ihr, dass der Name Biologie nur das Dach für viele Fachrichtungen bildet. Für Psychologie seien noch Plätze frei. Ihre Antwort: »Will ich nicht, kann ich nicht.« Womöglich kluge Leute rieten ihr, doch erst einmal hinzugehen und sich anzuhören, was geboten wird. Vorsichtshalber habe sie noch im Politischen Wörterbuch der DDR das Stichwort Psychologie nachgeschlagen: »Danach wusste ich auch nicht mehr über Psychologie.« Trotzdem reiste die Rostockerin im Herbst 1975 nach Moskau und schrieb sich an der Fakultät für Psychologie der Lomonossowuniversität ein. Ein für westdeutsche Kundschaft hergestelltes Hamburger Nachrichtenmagazin verbreitete über Rosina Neumann, sie habe während ihres Studiums in Moskau Privilegien genossen. Natürlich war die Lomonossowuniversität im Ostblock eine Eliteanstalt, jedoch nicht vergleichbar mit Eton oder Oxford, weil man in England zuerst Geld braucht. Zum Thema DDR-Privilegien trug die Schauspielerin Inge Keller einen anschaulichen Vergleich bei. In einer Gesprächsrunde fuhr ein Ansager des Westdeutschen Rundfunks die Eiskunstlauftrainerin Jutta Müller an, dass die zu DDR-Zeiten als Privilegierte auch ins westliche Ausland reisen durfte. Die Schauspielerin Keller bejahte, ja, die Trainerin Müller sei in der DDR eine privilegierte Person gewesen. Sie durfte arbeiten, und sie habe gute Arbeit abgeliefert und die sei anerkannt worden. Die Studentin Neumann begann das Studium mit dem, was Fremdwortanhänger Eklat nennen. Nach der Eröffnungsvorlesung des Dekans Leontjew ging sie auf den Mann zu und erklärte, sie habe kein Wort verstanden. Groß war schon der Unterschied zwischen dem in der DDR gelehrten Russisch und dem vor Ort gesprochenen. Dazu kamen noch die Wörter der Fachsprache. Die FDJ-Gruppe reagierte empört. Das Verstehproblem hätte nach DDR-Art erst einmal in der Gruppe diskutiert werden müssen und höchstens mit einem höflichen Brief enden dürfen. Nach sozialistischem Muster schloss man auch das Moskauer Studium nach fünf Jahren mit dem Diplom ab. Die Absolventin Neumann sollte 1980 an der Jenaer Universität ihre erste Arbeitsstelle antreten. Sie hatte allerdings in Moskau ein »rotes Diplom« bekommen. Auf solch »rotem Diplom« durften höchstens (umgerechnet in die deutsche Wertetabelle) zwei Zweien stehen, alle anderen Fächer mussten mit einer Eins abgeschlossen werden. Automatisch sei sie in Moskau für eine Aspirantur nominiert worden, die DDR-Seite gab widerstrebend nach. Im Dezember 1985 verteidigte sie in Moskau ihre Doktorarbeit und ging zurück in ihre Heimatstadt Rostock Am Institut für sozialistische Wirtschaftsführung wurde die junge Doktorandin zur Verhaltenstrainerin ausgebildet und erhielt ihren schon beschriebenen ersten Auftritt bei den Managern von SKET. Die hatten ein großes Problem, sagt die Psychologin im Rückblick. Die sollten Dinge umsetzen, von denen sie nicht überzeugt waren. Anfang 2002 suchte die Rostocker PDS eine Kandidatin für die Bundestagswahl. Wolfgang Methling, Umweltminister in Mecklenburg-Vorpommern, erinnerte sich an seine Zeit an der Rostocker Universität. Da sei ihm eine junge Frau aufgefallen, die sich immer mal mit der Leitung anlegte und sich besonders für die weiblichen Mitarbeiter einsetzte. Rosina Neumann bestätigt das. Sie sei 1994 Gleichstellungsbeauftragte an der Uni geworden und habe sich seither eingemischt. Sie bezeichnet das auch als Folge ihres Studiums in Moskau. Das sei ein »unheimlich harter Job« gewesen. Sie habe gelernt, sich unter beinahe allen Umständen durchzusetzen. Sie erinnert an einen Buchtitel über die Brandenburgerin Regine Hildebrandt: »Erzählt mir doch nich, dasset et nich jeht.« Rosina Neumann verneint die Frage, ob sie jemals Angst hatte, nach 1990 wegen eines Widerspruchs im sozialen Abseits zu landen. Für die PDS soll Rosina Neumann bei der Bundestagswahl erstmals den Wahlkreis Rostock gewinnen. Dazu müsste sie die meisten Stimmen aller Bewerber erhalten. 1998 hatte Christine Lucyga von der SPD mit 36,8 Prozent vor den Kandidaten der PDS (33,5 Prozent), der CDU (23.9 Prozent) und der Bündnisgrünen (2.3 Prozent) gewonnen. Auch in diesem Jahr wird die SPD-Frau als Favoritin gehandelt. Allerdings ist offen, wie die Wähler in Rostock die Wackelpolitik Lucygas in der Frage Krieg oder Frieden bewerten. Noch im September 2001 gehörte die Rostockerin zu den 19 Abweichlern in der SPD-Bundestagsfraktion, die gegen einen Einsatz der Bundeswehr in Mazedonien stimmten. Christine Lucyga ließ sogar über die Rostocker Kirche Unterschriften gegen Kriegseinsätze der Bundeswehr sammeln. Als im November 2001 die eigene Mehrheit von SPD und Grünen beim Ja zum Bundeswehreinsatz in Afganistan knapp zu werden drohte, verknüpfte Bundeskanzler Schröder die Abstimmung mit der Vertrauensfrage. Christine Lucyga unterschrieb gemeinsam mit 15 Fraktionsgenossen eine Erklärung. Die Abgeordneten meinten, sie hätten zum Kanzler ja gesagt, zum Krieg nein. Im dokumentierten Abstimmungsergebnis spielen solche Unterschiede leider keine Rolle. Da steht bei Lucyga nur ein Ja zum Kriegseinsatz. Rosina Neumann nennt vor allem drei Punkte, warum sie als Parteilose auf der PDS-Liste kandidiert. Die PDS sei die einzige Partei, die sich konsequent für ostdeutsche Interessen einsetze, die entschieden gegen jeden Kriegseinsa...

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