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Heißer Sommer im eiskalten Barrow
Die globale Erwärmung macht auch einem der abgelegensten Orte der Welt im nördlichsten Nordamerika zu schaffen
Barrow - das ist selbst für Alaska-Bewohner ein Rätsel«, sagt Cindy Cormack voller Erwartung. Die 46-Jährige sitzt im Nachmittagsflugzeug der
»Alaska Airlines«, das von der Landeshauptstadt Anchorage den hohen Norden ansteuert. Zwei Stunden dauert ein regulärer Flug zum nördlichsten Punkt Nordamerikas in der Arktis, und Cindy Cormack freut sich auf eine Woche Urlaub. Barrow hat sie als Ziel gewählt, »weil der Ort so weit weg von den Bevölkerungszentren Alaskas liegt, dass man sich wie am Ende der Welt vorkommen muss, die totale Einsamkeit«. Wir sind zusammen mit knapp 20 weiteren Fluggästen in Anchorage eingestiegen, die eine Hälfte weißhäutige, europäischstämmige Einzelreisende, die andere Hälfte indianisch aussehende Eskimo-Familien.
Soeben kündigt der Flugkapitän die Landung in zehn Minuten an. Eineineinhalb Stunden zuvor hatte das Flugzeug den über 6000 Meter hohen, schneebedeckten »Mount McKinley« passiert und bei strahlender Sommersonne die Sicht auf das ewige Eis der gigantischen Gletscher freigegeben, die in kilometerweiten Zungen auslaufen. Danach glitt der Jet über Hunderte von Kilometer braun-grüner Tundra ohne Straßen und Ortschaften.
Barrow mit seinen rund 4500 Einwohnern, eine der abgelegensten Siedlungen der Welt, liegt 500 Kilometer nördlich des Polarkreises. Der Anflug: ein atemberaubender 180-Grad-Schwenk, der uns über die blitzend-weißen Eisschollen im tiefblauen Polarmeer führt. Die Ankunftshalle erweckt den Eindruck, dass hier jeder jeden kennt. Mehrere Dutzend Menschen werden mit demselben Flugzeug eine Halbe Stunde später Richtung Süden fliegen.
Es ist Hochsommer in der Arktis, gute 25 Grad, T-Shirt-Wetter. Cindy Cormack schwitzt, als sie sich den Rucksack über die Schultern wirft. Sie wird sich, wie die meisten Touristen, im Hotel »Top of the World« niederlassen. Kurzurlaub in Barrow, das heißt für den, der hier keine Bekannten hat, mit den örtlichen Reisefirmen Tagesausflüge in die Tundra zu unternehmen, mit dem Feldstecher ausgerüstet seltenen Vögeln wie der Schneeeule nachzuspüren, den Blick über das Polarmeer in Richtung Nordpol schweifen zu lassen - und sich über die Lebensweise der einheimischen Eskimos Gedanken zu machen. Die Mehrzahl der Touristen kommt nur für einen Tag, und am nächsten geht die Reise wieder zurück in den Süden.
Im Sommer, der in Barrow nur zwei Monate dauert, steht die Sonne 24 Stunden lang am Himmel. Die Mitternachtssonne zwingt dazu, die Fenster »nachts« gänzlich mit Vorhängen zuzuziehen, um ein paar Stunden Schlaf zu finden. Allein dieses Erlebnis, dass sich der Himmel wochenlang nicht verdunkelt, lockt Besucher an. Im Winter zählt der Ort zu den kältesten der Erde. Diese Faktoren bestimmen das Leben in Barrow.
Ein erster Gang vom Flughafen zum Postamt enthüllt die Probleme, die der Dauerfrost mit sich bringt. Bis auf die wenigen Wochen im Sommer sind neben Autos, die für extrem tiefe Temperaturen ausgestattetet sind, Schneemobile das wichtigste Fortbewegungsmittel. Ein »snow mobile« findet sich auch auf Verkehrsschildern. Gas- und Elektrizitätsleitungen ziehen sich oberirdisch entlang der Straße in Dämmrohren durch die Ortschaft. Sämtliche Gebäude stehen auf Stelzen, und unterhalb sind Wasserlachen aufgetauten Eises zu sehen.
Die Durchschnittstemperatur beträgt im Februar minus 28 Grad Celsius, der wärmste Monat ist der Juli mit rund fünf Grad im Mittel - kein Wunder also, dass das Wetter von einer Generation zur nächsten Dauerthema ist. Dies gilt nicht nur im Norden, sondern auch in Zentral-
alaska. Die Temperaturen bestimmen sogar die Verdauung: Bei 45 Grad Minus ist es nicht mehr angebracht, die Toilettenspülung zu benutzen. Menschliche Ausscheidungen werden in Tüten ins Freie getragen, wo sie innerhalb von Sekunden zu Eis gefrieren und von der Müllabfuhr entsorgt werden. Das Wissen um Temperaturen gehört zu den Überlebenstechniken.
Gerade die ältere Generation vergleicht das Heute mit früheren Zeiten. Und die globale Erderwärmung, die in Alaska um das Zwei- bis Dreifache höher liegt als im Rest der Welt, ist deutlich spür- und sichtbar. Die 56-jährige Altenpflegerin Margret Glasstetter - ihr Familienname stammt von ihrem deutschen Ehemann - ist sich sicher: »Das Sommerwetter in Barrow hat sich geändert. Das Gras ist höher, auf einmal gibt es bei uns Lachse an Stellen, wo es früher keine gab. Grizzlie-Bären kommen zu uns hoch und ebenso Elche. Dort draußen in der Lagune angeln sie jetzt auf einmal Lachse. Das gab es früher nicht.« Auch einer der Dorfältesten, der ehemalige Rentierhirte Edward Edwardson, der als Jugendlicher noch Iglus baute, um sich vor der Kälte und vor den Eisbären zu schützen, ist fassungslos über die warmen und lange anhaltenden Sommertemperaturen. Er trägt Mitte Juli ein T-Shirt, und in seiner Wohnung hat er Ventilatoren aufgestellt. Die Temperatur beträgt freilich nur knapp über 20 Grad, was für einen Barrower allerdings schon extreme Hitze bedeutet. Der 76-Jährige erinnert sich: »Dieser Sommer ist der wärmste, den wir je hatten. Und ganz ohne Mücken. Früher hatten wir sie zu dieser Jahreszeit scharenweise. Und jetzt: nicht ein einziger Moskito.« Edward Edwardson gesteht ein, dass er gegen wärmere Temperaturen nichts habe. Schließlich sei auch er, ein Innupiat-Eskimo, im Alter gegen die extreme Kälte nicht gefeit.
Margaret Glasstetter, ebenfalls Angehörige des Innupiat-Volkes, stimmt zu. »Mit 56 will man es um den Bauch herum doch etwas wärmer haben«, lacht sie. Doch dann wird sie ernst. »Aber was wird aus unseren Tieren? Verschwinden die? Die Eisbären, die Karibus? Und was wird aus der Walwanderung?« Die klimabedingte Veränderung von Flora und Fauna wird von den Einheimischen mit großer Sorge beobachtet. Denn die Eskimos ernähren sich traditionell von der Subsistenzwirtschaft: Beeren, Vogeleier, Karibus aus der Tundra. Die Hauptnahrung bringt jedoch die Ernte auf und aus dem Polarmeer: Robben, Walrosse, ja sogar Eisbären und Wale. Die Barrower Innupiat dürfen pro Saison 22 Wale für den Eigenverbrauch fangen. Um Eisbären in Schussweite zu bringen, schleppen die Jäger dann einen Wal an Land. Es dauert nicht lange, bis die hungrigen weißen Riesen über die Eisschollen ans Festland gehen, vom intensiven Geruch des Waltrans angezogen.
Die Tierbestände seien nach wie vor relativ stabil, erklärt Craig George, ein Biologe vom »Barrow Arctic Science Consortium«, einer Forschungsstation vor Ort. Er gehe aber davon aus, dass sich die Erwärmung der Erdoberfläche, das Schmelzen der arktischen Eisdecke und das immer tiefer gehende Auftauen des Tundrabodens bald im Ökosystem und in der Nahrungsmittelkette bemerkbar machen werden. Für Rolf Gradinger, einen deutschen Meeresbiologen mit Sitz an der »University of Alaska« in Fairbanks, ist der Klimawandel bereits deutlich sichtbar - mit ungeheuren Folgen. Die ganzjährige arktische Meereisdecke sei bereits um bis zu 14 Prozent zurückgegangen, sagt er, davon direkt betroffen seien Krebsarten, für die das Meereis die Lebensgrundlage darstellt. Die Nahrungsmittelkette, die durch die Klimaerwärmung langsam durchbrochen wird, beschreibt er so: »Plankton ist Hauptnahrung für die Amphipoden, die wiederum die Nahrung sind für den Polardorsch. Der ist die Hauptnahrung für die Robben, und wovon ernährt sich der Eisbär vor allem? Von Robben.«
Das Schmelzen des Meereises, so Gradinger, werde dazu führen, dass manche Tierarten ganz aussterben. Mit negativen Folgen für die Einheimischen. Dass die Klimaerwärmung nur zu einem kleinen Teil ein Naturphänomen darstellt und großenteils auf menschlichen Einflüsse - Stichwort Treibhauseffekt - zurückzuführen ist, darin sind sich die Wissenschaftler und die einheimischen Eskimos in Barrow einig.
Die seit über 50 Jahren bestehende Forschungsstation lädt die örtliche Bevölkerung wöchentlich zu Informationsveranstaltungen ein, die Vorträge kreisen um ein und dasselbe Thema: das Wetter, seine Auswirkungen, und wie man der Erderwärmung begegnen könnte. Die Touristin Cindy Cormack hat sich nach einer Woche Barrow jedenfalls gut erholt. Vor ihren Spaziergängen an der Polarmeerküste habe sie sich das Gesicht vorsorglich mit Sonnencreme eingerieben, sagt sie lachend. »Ein warmer Sommer in der Arktis, wer hätte das gedacht?« Von globaler Klimaerwärmung hat sie bereits gehört. Aber ernst zu nehmen seien die Warnungen nicht, meint sie,...
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