Mit 13 schon eine Frau?

Neue Studien belegen: Pubertät bei Mädchen und Jungen beginnt immer früher

Clarissa ist zehn Jahre alt und geht in die vierte Klasse der Grundschule. Obwohl sie noch immer am liebsten mit Puppen spielt, hat sie vor einem Monat zum ersten Mal ihre Tage bekommen. »Das war für meine Tochter ein richtiger Schock«, erzählt ihre Mutter. »Auch ich habe anfangs gar nicht gewusst, wie ich reagieren soll. Denn in meiner Generation war ein zehnjähriges Mädchen noch ein ganzes Stück von der Pubertät entfernt.« Clarissa ist kein Einzelfall. Dass die Geschlechtsreife bei Mädchen immer früher einsetzt, gilt seit längerem als empirisch belegt. Schon 1962 stellte der britische Arzt James M. Tanner in einer Studie fest: »In den westeuropäischen Ländern ist zwischen 1830 und 1960 eine deutliche Vorverlegung des Menarchealters um etwa vier bis fünf Monate je Dezennium zu konstatieren.« Das heißt: Bekamen Mädchen um 1830 mit 17 Jahren ihre erste Regelblutung, geschah dies 1960 bereits im Alter zwischen 13 und 14 Jahren. Seitdem hat sich dieser Trend weiter fortgesetzt. Derzeit liegt das Durchschnittsalter für die erste Menstruation bei 12 Jahren und zehn Monaten. Andere körperliche Veränderungen, wie die Bildung der Brust oder das Wachstum der Schamhaare, lassen sich noch viel früher nachweisen. Ein britisches Forscherteam um Jean Golding von der Universität Bristol hat die körperliche Entwicklung von 1150 Mädchen von Geburt an verfolgt. Ergebnis: Bei einem von sechs Mädchen zeigten sich bereits im Alter von acht Jahren erste Anzeichen der Pubertät. Eine Generation früher war dies nur bei einem von 100 achtjährigen Mädchen der Fall. Die bisher umfangreichste Studie mit rund 17000 Mädchen wurde an der University of North Carolina durchgeführt. Auch hier pubertierten 14 Prozent bereits mit acht, fünf Prozent sogar mit sieben Jahren. Bei den meisten Mädchen jedoch begann die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale (Brust, Schamhaare) im Alter von neun bis zehn Jahren. Normalerweise sind Mädchen, was ihre sexuelle Reifung betrifft, Jungen um etwa zwei Jahre voraus. Dieser Abstand hat sich in den letzten Jahrzehnten kaum nennenswert verändert. Was sich folglich verändert hat, ist auch bei Jungen das Eintrittsalter in die Pubertät. Beispiel Stimmbruch: Musste Joseph Haydn (1732-1809) die Wiener Sängerknaben erst mit 18 verlassen, wurde dieser Schritt bei Franz Schubert (1797-1828) bereits mit 16 und bei Anton Bruckner (1824-1896) mit 15 Jahren nötig. Heute scheiden manche Jungen bereits mit 13 oder noch weniger Jahren aus dem berühmten Chor aus. Aber noch bevor die Stimme der werdenden Männer in den Keller geht, kündigen sich andere körperliche Veränderungen an. Zwischen dem 10. und 13. Lebensjahr wachsen die Hoden um das Zehnfache und sprießen die Haare - vor allem in der Schamgegend und den Achselhöhlen. Es war erneut Jean Golding, die in einer Studie herausgefunden hat, dass auch diese Reifezeichen immer früher sichtbar werden. Danach besitzt jeder 14. Junge heute bereits mit acht Jahren eine Schambehaarung. Zum Vergleich: In der vorhergehenden Generation wurde dieser frühe Anflug von Männlichkeit nur bei jedem 150. Jungen dieses Alters registriert. Welche Ursachen gibt es für diese Entwicklung? Darüber sind die Wissenschaftler nach wie vor geteilter Meinung. Einige vermuten, dass eine bessere Ernährung der auslösende Faktor sei. »Wir wissen seit langem, dass übergewichtige Mädchen körperlich früher reifen, und extrem dünne Mädchen, zum Beispiel Magersüchtige, dies erst sehr viel später tun«, erklärt Hormonforscher Paul Kaplowitz von der Virginia Commonwealth University School of Medicine in Richmond. Erst jüngst konnten US-Forscher zeigen, dass das Protein Leptin, welches in den Fettzellen gebildet wird, die Produktion der Geschlechtshormone anregt. Das heißt: Je rascher der Körper ein bestimmtes Gewicht erreicht, desto früher beginnt die sexuelle Reifung. Aber auch die höhere Stressbelastung unserer Zeit steht im Verdacht, den Eintritt der Pubertät zu beschleunigen. »Kinder werden heute intellektuell viel mehr gefordert als noch ihre Eltern«, erklärt der Freiburger Kinderpsychiater Ulrich Rabenschlag. »Sie bekommen mehr Anregungen aus ihrer Umwelt, bewegen sich mehr und unterliegen einem höheren Lärmpegel.« Selbst die Art des Familienlebens scheint den Verlauf der sexuellen Reifung zu beeinflussen. So haben Forscher der Vanderbilt University in Nashville beobachtet, dass Töchter von allein erziehenden Müttern schneller pubertierten als Mädchen, die im ersten Lebensjahrzehnt in einer »heilen« Familie aufwuchsen. Ob allerdings die Sexuallockstoffe (Pheromone) der neuen Liebhaber der Mutter die sexuelle Reifung der Mädchen stimulieren, wie eine Theorie besagt, konnte bislang nicht bewiesen werden. Häufig ist der frühe Beginn der Pubertät nicht nur für die betroffenen Kids, sondern mehr noch für deren Eltern ein Problem. Denn zum ersten Mal in der Geschichte können Mädchen schwanger werden, die noch in die Grundschule gehen. Und anstatt die Ansätze ihrer Weiblichkeit unter großen Pullovern zu verbergen, wie dies früher üblich war, tragen die meisten Mädchen heute enge Klamotten, die ihre körperlichen Reize besonders betonen. Das sei in der Mehrzahl der Fälle jedoch keine sexuelle Anmache, meint Rabenschlag: »Das direkte sexuelle Interesse am anderen Geschlecht setzt deutlich später ein.« Laut Statistik sind etwa 95 Prozent der Mädchen beim »ersten Mal« älter als 14. Außerdem wollen die meisten in ihren Partner verliebt sein, bevor sie mit ihm schlafen. Nichtsdestotrotz sollten Eltern ihre Kinder so früh wie möglich sexuell aufklären, da es eine nicht zu unterschätzende Zahl von Mädchen und Jungen gibt, die bereits am Anfang der Pubertät sexuelles Interesse am anderen Geschlecht zeigen, ohne über die Methoden der Empfängnisverhütung oder die Gefahr von Geschlechtskrankheiten informiert zu sein. »Viele Gespräche mit pubertierenden Mädchen haben mir überdies gezeigt, dass diese häufig nicht wissen, wie ihre körperlichen Reize auf Männer wirken«, erklärt Rabenschlag, der Eltern deshalb den Rat gibt: »Reden Sie darüber mit ihren Töchtern, sachlich und offen. Aber verbieten Sie ihnen nicht, sich individuell zu kleiden oder zu schminken.« Es ist vermutlich ein nicht zu unterschätzender Vorteil der frühen Geschlechtsreife, dass die damit verbundenen Familienkonflikte noch zu einer Zeit stattfinden, da die Kinder von ihren Eltern ökonomisch abhängig sind. Später, wenn sie als Jugendliche ihren eigenen Weg ins Leben gehen, hat sich das Verhältnis zum Elternhaus meist wieder normalisiert. Doch der frühe Einstieg in die Pubertät hat auch eine Kehrseite, wie Rabenschlag aus eigener therapeutischer Erfahrung zu berichten weiß: »Die Kindheit wird immer kürzer.« Viele Mädchen und Jungen seien bereits mit zwölf, dreizehn Jahren so sehr mit den Problemen ihrer körperlichen Reifung beschäftigt, dass sie für alles andere, namentlich für die Schule, immer weniger Interesse zeigten. Wie kaum ein anderes Alter gilt die Pubertät als eine der großen Krisenzeiten im Leben eines Menschen. Je früher sie einsetzt, desto mehr driften körperliche, geistige und emotionale Entwicklung auseinander. Viele Mädchen und Jungen sind heute mit Verstand und Seele noch ganz Kind, während ihr Körper regelmäßig von Hormonen überflutet wird, die ihnen das Gefühl vermitteln, schon erwachsen zu sein. Das hat zur Folge, dass sie auf der einen Seite nach neuen Abenteuern und Herausforderungen suchen, sich aber andererseits nach den unbeschwerten Tagen der Kindheit zurücksehnen. Um diese widersprüchliche Lebenssituation bewältigen zu können, hoffen viele Kinder auf das Verständnis und die Hilfe ihrer Eltern und sind nicht selten enttäuscht, wenn sie von diesen nur Vorwürfe oder Moralpredigten zu hören bekommen - nach dem Motto: »In deinem Alter durfte ich so etwas auch noch nicht« oder »Dafür bist du viel zu jung.« Väter und Mütter, die so reagieren, haben anscheinend die Erfahrungen ihrer eigenen Jugend vergessen. Denn durch derart pauschale Tabuisierungen werden junge Menschen nur frustriert und dazu verleitet...

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