Der Mensch als Wolf des Menschen

Den Zeichenkosmos von »Russian Criminal Tattoos« dokumentiert die Galerie Hetzler

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.

Ohne Tätowierung kein sozialer Status innerhalb der Hierarchie unter den Häftlingen in russischen Gefängnissen. Dass all diese Ritzungen in die Haut eminent symbolische Bedeutung haben und was sie dem eingeweihten Betrachter erzählen, erläutert eine Ausstellung in der Galerie Hetzler. Möglich wurde sie durch das Lebenswerk eines Wärters. Von 1948 bis 1986 arbeitete Danzig Baldaev als Aufseher in Gefängnissen, zeichnete in dieser Zeit über 3000 Tätowierungen ab, fein mit Tinte und versehen mit ausgiebigen Kommentaren. Der Burjate Baldaev, als Sohn eines »Volksfeinds« im Waisenhaus für Kinder von politischen Opfern aufgezogen und nach dem Krieg vom Geheimdienst zum Aufseher bestellt, wurde so zum Ethnologen für ein kaum erforschtes Terrain. Als er 2005 80-jährig starb, haben englische Verleger sein aus 739 Originalbögen bestehendes Archiv von der Witwe erworben und als »Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia« in drei Bänden publiziert. Ausschnitte zeigt Hetzler, ergänzt durch Fotos von Häftlingen mit derart markierter, beschrifteter Haut. Aufgenommen hat diese 32 Zeitdokumente der Tschuwasche Sergej Vasiliev, ein international preisgekrönter Fotograf, zwischen 1989 und 1993 in Gefängnissen und Besserungsanstalten bei Tscheljabinsk, Nishni Tagil, Perm, St. Petersburg.

Fast alle Männer sind flächendeckend tätowiert, mit scheinbar konträren Bildmotiven und wiederkehrenden Texten. Ikonenhafte Darstellungen der Maria mit Jesusknaben tauchen auf, nackte Frauen und eine 100-Rubel-Note schmücken Bizeps respektive Schulter, »O Herr, vergib mir für die Tränen meiner Mutter« bittet ein Spruchband um den Hals; wie ein T-Shirt bedecken die Ritzungen die Brust. Vor einer gemalten Landschaft posiert der »Träger« mit hagerem Gesicht. Mit einem Metalllöffel zum Schutz der Augen wurde einem Häftling »Sie schlafen« auf die Lider gestochen. Ein anderer hat Epauletten mit einem Totenkopf als Zentrum auf den Schultern, ebenso Diebessterne, was auf einen hohen Rang in der Diebeshierarchie schließen lässt, gleichsam bedeutet, dass er nie arbeiten will.

Einen nächsten ziert auf der Brust eine ganze orthodoxe Kirche mit Zwiebeltürmen, von zwei Totenköpfen flankiert; auf dem rechten Arm steht unter dem Jesus »Gott mit uns«, Wahlspruch des Zaren wie im »Dritten Reich«. »Bedenke deine Sterblichkeit« in lateinischen Lettern klingt dagegen wie eine versteckte Drohung an den Leser. Zwei Häftlingen scheint ein Dolch in den blutenden Hals zu stoßen. »Solange ich atme, hoffe ich« trägt einer zur Schau, darunter einen Turbanmann, Symbol für Brutalität, Sadismus. Er erwarte nie Freilassung, lässt einer bitter auf den Augen lesen, wartet mit Zornsprüchen gegen die Kommunisten für die ruinierte Jugend auf, wirkt in seinen wilden Tätowierungen verwegen, trotzig.

Freilich lassen sich die Hautbilder nur im Zusammenklang mit den Körperformen, dünn, ausgemergelt, gebeugt, und den meist desillusionierten Gesichtern lesen. Wie viel Leid die Insassen erdulden müssen, wie viel Leid sie zugefügt haben mögen, kann man nur ahnen. Neben den beliebten religiösen Motiven finden sich immer wieder Hakenkreuze als Zeichen für Aggression gegen die Obrigkeit und Ausdruck der Meinung, die SS sei besser als die KPdSU, sowie allgemeine Textattacken wider den Kommunismus, der nur Opfer produziere. »Mein Gewissen ist rein, ich betrüge nicht« verkündet ein Schriftzug und bezieht sich einzig auf die Kameraden; »Ich brauche kein Glück« steht aufsässig zwischen Madonna und brüllendem Tiger, die echte Narbe im Gesicht ist Strafe für einen Kameradenbetrüger oder Verräter.

Mitunter erzählen jene Bilderwelten ganze Biografien, sind Pass und, später, Epitaph des Trägers. Selbst Lenin ziert die Brust überm Herz, in der Hoffnung, man werde dorthin nicht schießen. Ein mephistophelischer Feingeist lässt sich neben einem Cello ablichten, trägt Symbole für einen Mord im Gefängnis, Glocken auf den Füßen als Hinweis, er erwarte keine Demission. Poet und Musiker ist einer, der aus Drogensucht zum Mörder wurde, sich per Zeichen als Homosexueller outet; die Madonna ist zentrales Brustmotiv. In all der Widersetzlichkeit via Symbol, unter all den gestochenen Dämonen und Monstern als Schreckgespenstern setzt ein umarmtes Freundespaar, jung und verschlossen, dennoch ein Fanal von Zartheit und Hoffnung. Weniger grell ausstaffiert sind weibliche Insassen. »Halte Liebe, schätze Freiheit« kündet ein Schriftzug; eine andere hat sich eindeutig lesbische Texte aufbringen lassen. Die Motive auf Baldaevs Zeichnungen reichen von Lenin als dem bockshörnigen Antichristen und der KPdSU als getarntem Sensenmann bis zu Jelzin und einem Nackten, der mit dem »Kapital« in der Hand ins Gulag reitet. Dass drastische Sexdarstellungen nicht fehlen, versteht sich beinah von selbst.

Bis 16.6., Galerie Hetzler, Oudenarder Str. 16-20, Wedding, Telefon 45 97 74 20, www.maxhetzler.com

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