Postmigrantisches Tandem

Wagner Carvalho und Tunçay Kulaoglu bilden die neue Doppelspitze am Ballhaus Naunynstraße

  • Volkmar Draeger
  • Lesedauer: 4 Min.
Tunçay Kulaoglu und Wagner Carvalho
Tunçay Kulaoglu und Wagner Carvalho

Sie möchten künftig eine weitere Seite in der Erfolgsgeschichte des Ballhauses Naunynstraße aufschlagen: Wagner Carvalho und Tunçay Kulaoğlu als designiertes Leitungsduo ab der Saison 2012/13. Als Einrichtung des Stadtbezirks Friedrichshain-Kreuzberg hat die Spielstätte eine wechselvolle Geschichte, bot jungen Künstlern wie Sasha Waltz, Christina Ciupke, Constanza Macras ein erstes Podium, dümpelte dann lange vor sich hin. Das änderte sich, als 2008 Shermin Langhoff das Haus übernahm, migrantisches und postmigrantisches Theater ansiedelte und die Auslastung schon in den ersten zwei Spielzeiten auf über 90 Prozent schnellen ließ. Das Ballhaus Naunynstraße wurde »in«, punktete indes auch mit aufsehenerregenden Inszenierungen: gut 40 Premieren und Uraufführungen von Eigen- und Koproduktionen, Gastspiele von Amsterdam bis Bern, Istanbul bis New York. Noch immer läuft als das vielleicht prestigeträchtigste Projekt Nurkan Erpulats »Verrücktes Blut«, geladen zu vielen Festivals; Aufmerksamkeit errangen ebenso Lukas Langhoffs Inszenierungen mit Migranten der ersten bis dritten Generation, die nach Deutschland kamen, hier blieben, Familien aufbauten. Heute ist eine Auslastung von 100 Prozent die Regel, und das gedenkt die neue Leitung so fortzusetzen.

Neu ist jedoch allenfalls die eine Hälfte jener Doppelspitze, denn Kulaoğlu gehört gemeinsam mit Shermin Langhoff zum Team der Gründungsphase. In Izmir wurde er 1966 geboren, kam mit 15 nach Nürnberg, legte dort Anfang der 90er Jahre mit Langhoff im Rahmen einer Kulturinitiative den Grundstein für das Filmfestival Türkei/Deutschland. Nach Ausflügen als Regisseur wurde er in Berlin Mitbegründer des transkulturellen Netzwerks »kulturSPRÜNGE e.V.«, co-kuratierte die Filmreihen in »Beyond Belonging«, war Co-Dramaturg in Neco Çeliks vielbeachteter Inszenierung »Schwarze Jungfrauen« 2006, dann Co-Autor und Dramaturg in Erpulats »Jenseits - Bist Du schwul oder bist Du Türke?«, alles im Hebbel am Ufer. Er schreibt, übersetzt und ist seit 2008 leitender Dramaturg am Ballhaus Naunynstraße. Nun springt er mutig ins nicht ungefährliche Gewässer des Co-Leiters.

An der Seite hat er mit Wagner Carvalho einen Compagnon, der dem Ballhaus seit 2009 künstlerisch verbunden ist. Eigentlich bereits früher, denn lange zuvor trat er hier selbst auf: mit einem Solo zum Thema Achtung, die man braucht und sich selbst gegenüber walten lassen muss. Engagiert für soziale Belange ist er seit jeher. Geboren wurde auch er 1966, im brasilianischen Belo Horizonte, wo er seit dem 12. Lebensjahr in der Tradition des »Theaters der Unterdrückten« von Augusto Boal zum Tänzer, Schauspieler, Sprecherzieher ausgebildet, danach künstlerischer Leiter einer Theaterschule wurde. Das Goethe-Institut machte für drei Monate einen Aufenthalt in Berlin möglich, zwei Jahre später, 1992, kam er hierher.

Schwer war der Start, erinnert er sich: Er kannte niemanden, sprach wenig Deutsch, hatte indes Einladungen für Workshops bis in die Schweiz. Ausdrucksform war ihm damals das Solo, etwa über nach Brasilien verschleppte Afrikaner, Sehnsucht nach der Heimat, Identitätsfindung. Von 1996 bis 2000 studierte er Theaterwissenschaften an der Freien Universität. Seinen Namen erwarb er sich vornehmlich in jenen 19 Jahren, seit denen er fast unermüdlich Theater und Tanz aus Brasilien in Berlin präsentiert. Bekannteste Initiative ist »brasil move berlim«, 2002 begründet, biennal im Hebbel am Ufer ausgetragen und jedes Mal eine organisatorische Tour de force. Größen wie Bruno Beltrão, heute kaum mehr von Europas Festivals fortzudenken, danken Carvalho ihre internationale Popularität.

Zusammen mit Kulaoğlu trägt er nun Verantwortung für die Geschicke am Ballhaus. Grundsätzlich, so beide, soll die Linie des postmigrantischen Theaters erhalten bleiben. »Obwohl Migranten der zweiten, dritten Generation im Film sichtbar wurden, mit Fatih Akın als Galionsfigur, gab es so etwas im Theater nicht«, erinnert sich Kulaoğlu: »Das wurde uns am Ballhaus Chance und Bedürfnis zugleich.« Filmregisseure inszenierten an der Naunynstraße, erzählten Geschichten aus ihrer Sicht und zogen Publikum ins Haus. Rund 30 Prozent der Zuschauer stammen aus dem Kiez, immerhin der große Rest kommt von woanders, sogar aus dem Ausland. Inzwischen hat sich der Themenkreis erweitert, inszenieren und choreographieren Künstler aus dem Iran, aus Südamerika, dem arabischen Raum. »Wir werden zunehmend Platz für die performative Auseinandersetzung mit dem Körper einräumen«, sagt Carvalho, möchte etwa über Workshops zu Boals Konzept Autoren sein Theaterverständnis nahebringen. Und würde gern »sein« Festival »brasil move berlim« ans Haus holen. Wegen der immensen Vorbereitung kann es jedoch erst 2014 wieder stattfinden.

Verstärkt will das Duo künstlerischen Nachwuchs fördern, bietet etwa drei jungen Schauspielerinnen die Chance zur Regie. Grenzen setzt das Budget: Die 423 000 Euro aus der Konzeptförderung dürfen lediglich in die Aufrechterhaltung des Betriebs fließen; für jede Produktion müssen Anträge an Bund, Land, Bezirk gestellt werden, um deren Fördertöpfe anzuzapfen. Dem könnten auch Koproduktionen mit dem Maxim-Gorki-Theater abhelfen, wo Shermin Langhoff ab 2013 Intendantin sein wird. Wie ernst Carvalho und Kulaoğlu ihr Anliegen ist, zeigt auch die eigene finanzielle Situation: Jene Stelle, die der Bezirk für Langhoff geschaffen hatte, wird aufgelöst, die Mittel gehen nun in »verflüssigter« Form dem Trägerverein »kulturSPRÜNGE« zu, der damit die Doppelspitze (unter)bezahlt - und ihr dennoch die Umsetzung eigener Ideen ermöglicht.

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