Gewand-Haus, ganz Welt

Kurt Masur zum heutigen 85. Geburtstag

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Großer alter Mann, was hat dich geführt und wohin führtest du dich? Wahrlich, die persönliche und künstlerische Biografie des Kurt Masur quillt geradezu über vor Wegsetzungen. Das 20. ist sein eigentliches Jahrhundert. Da öffnen, schürzen, entfalten sich die Widersprüche, da erfüllt sich seine energische Suche, da trennen sich Wege, kreuzen einander, da geht es von Etappe zu Etappe, von Engagement zu Engagement, da greift der Gereifte ein in die Debatten um das Für und Wider von Lebensorientierungen, zu Sinn und Entwicklungschancen von Kunst, Musik.

Entscheidende Frage für den Dirigenten: Wie kann ich Menschen über Musik verstehend machen, ihre Sinne schärfen, ihre Genussfähigkeit entwickeln? Den einstigen Bitterfelder Weg nimmt Masur, in der widersprüchlichen DDR zum Meister aufgestiegen, wörtlich, als gesellschaftliche Aufgabe. Er geht mit in die Betriebe, Er sucht, niemand scheuend, den Dialog noch mit den einfachsten Seelen, will sie heranführen, will sie über Beethoven, Mendelssohn, Schumann, Bruckner mit Humanem vertraut machen, sie dafür begeistern. Eine phantastische Initiative.

Unter Masur, seit 1970 im Amt des Gewandkapellmeisters, steigen beispielsweise in der Saison 1972/ 73 die ramponierten Besucherzahlen um fünfzig Prozent. Unter seiner Ägide tritt der Gewandhauskinderchor ins Leben. Bald hat die Kapelle zweihundert Musiker, betraut mit den parallelen Aufgaben in der Oper Leipzig und im Neuen Gewandhaus. Des Künstlers Repertoire ist breit gefächert. Tradition, werkgetreu musiziert, hat zwar die Vormacht. Aber Masur setzt Akzente. Mit Vertretern der Moderne auf Du und Du, führt er experimentelle Großwerke auf (»Michelangelosinfonie« von Friedrich Schenker). Aufträge ergehen an Fritz Geißler (9. Sinfonie, ein Schinken), Goldmann (Klavierkonzert), Matthus (»Holofernes-Porträt«), Udo Zimmermann (Klavierkonzert), Thiele (»Hommage à Machaut«), Schnittke (3. Sinfonie), Katzer (»Empfindsame Musik«).

1989. Es brodelt in Leipzig. »Wir sind das Volk« fordert eine freie, demokratische DDR. Masur stellt sich an die Spitze der Bewegung. Am 7. Oktober dirigiert er Bruckner und Schenker. Am 9. Oktober wiederholt er abends das Programm. Gleichzeitig wirft er seine ganze Energie in die Wagschale, als bei den ersten Montagsdemos Leipzig Gefahr läuft, zum Prügelplatz zu werden. Am selben 9. Oktober tritt er mit fünf weiteren Köpfen der Stadt dem Sicherheitsapparat entgegen und sorgt für Sicherheitsabsprachen.

Auch in sonstigen Lagen: Der Mann, eloquent, hat Haltung, er weiß, was er sagt, äußert sich auch im Kniffligen klar, überzeugend. Zu keiner Zeit hat Kurt Masur in wesentlichen Dingen sich überreden oder ins Boxhorn jagen oder auf die falsche Fährte bringen lassen. Ob gegenüber Instanzen, Genossen, Chairmans oder Managern. 1997 wird dem Chef der New York Philharmonics Kurt Masur nahe gelegt, er solle von seinem Amt als Musikdirektor zurücktreten. Das ist für den Dirigenten die Höhe. Empört, komplett unterstützt durch die Musiker, weigert er sich und bleibt (bis 2002).

Freund-Feind-Verhältnisse, da der Teufel, hier der Engel, will Masur nicht kennen. Er ist ausgleichend, er will Fronten einreißen. In Israel dirigierte er 1988 als künstlerischer Botschafter der DDR im Interesse erster Schritte der Annäherung.

Masur, er kommt ungeschoren über den Krieg, stammt aus einfachen Verhältnissen, erlebt sie, vergisst sie nicht. Sein Vater ist Inhaber eines Elektrofachgeschäfts. Der Sohn absolviert eine Ausbildung zum Elektriker, arbeitet auch in der Firma seines Vaters. Mit viel Freude an praktischer Arbeit.

Während des Krieges ist er zwei Jahre Schüler an der Landesmusikschule Breslau in den Fächern Klavier, Violoncello. Mit sechzehn überrascht ihn die ärztliche Diagnose, dass sein rechter Finger nicht mehr streckbar ist, was die mögliche Pianistenkarriere verstellt. Weg frei für den Entschluss, zu dirigieren. Nach kurzem Kriegsdienst studiert er an der Leipziger Mendelssohn-Akademie Klavier, Komposition und Orchesterleitung. Kurt bricht das Studium ab. Amateur ist er deswegen nicht. Er wird Dirigent mit vielerlei instrumentalen Kenntnissen.

Die Stationen seines Wirkens? Es sind viele, ungleich mehr als bei denen, die das Stetige lieben. Sie bedürfen hier nicht der Aufführung. Wichtig sind seine Aufführungen, ihre enorme Zahl, ihre hohe Qualität, das, das, was er geleistet hat etwa als Dirigent an der Komischen Oper Berlin unter dem grandiosen Felsenstein im Bereich des realistischen Musiktheaters.

Und wahrlich heilig sind die fast dreißig Jahre Gewandhauskapellmeister, ein Drittel Leben, das Kurt Masur, Ehrendirigent des Gewandhausorchesters, bei allem Weltkarrieretum nicht im Mindesten vergessen hat, wohl aber wie einen Schatz bewahren wird bis ans Ende.

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