Wie vielfältig Leben doch sein kann

Friedrich Grotjahn: »Helga im Kamin und andere Geschichten«

  • Paul Gerhard Schoenborn
  • Lesedauer: 3 Min.

Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar« - die Sentenz von Paul Klee kann zum Schlüssel dienen für diese Sammlung von siebzehn recht verschiedenen Kurzgeschichten Friedrich Grotjahns. Manche sind recht skurril, surreal: Da wird jemand zur Taube, ein anderer steigt in ein Bild hinein und erlebt darin eine rasende Busfahrt durch den Weltraum. Einem Cowboy der Gegenwart passiert es, dass sein Kontrahent sich nicht mit ihm schießt, sondern seinen Rechtsanwalt schickt, der die Sache unblutig regeln soll.

Andere der Geschichten erzählen von alltäglichen und doch besonderen Begegnungen mit den damit verbundenen Gerüchen, mit aufsteigenden Erinnerungen und Gedankenströmen, mit Schlüssen, die den Leser überraschen. In »Die Heimkehr« kommt ein Mann in sein Vaterhaus zurück, das er vor Jahren bei Nacht und Nebel verlassen hatte. Beklommen öffnet er die Tür des väterlichen Arbeitszimmers ...

In »Die Frau im Bus« geht es um Übersinnliches, das einen Busfahrer in seinem Dienst bedrängt und ihn für eine normale Berufsausübung untauglich macht. In der Geschichte »Im Büchermeer oder die Amsel« droht jemand in den Titelfluten eines Antiquariats unterzugehen. Ein Gedankenblitz könnte Entlastung bringen: »Es gibt ein Leben jenseits der Bücher, ein Leben, wo Amseln brüten.« Und was macht er? Er sucht nun vergeblich ein Buch über Amseln!

Zwei Geschichten fallen schon dadurch auf, dass sie wesentlich länger sind als die anderen. »Helga im Kamin« erzählt, wie das Ausweichen in die Arbeitswelt des Ruhrgebiets eine Liebe rettet und befreien kann von hartherzigen Kalkulationen in einer norddeutschen Bauernfamilie. Nicht nur wie früher macht Stadtluft frei, sondern auch Maloche im Pott. In »Sonnige Tage« treffen zwei recht verschiedene Vorstellungen von Glück aufeinander: ein von seinem Leben enttäuschter Selbstmordkandidat und ein Obdachloser, der allen Zufällen des Lebens das Beste abgewinnt. Was aber werden die Gespräche der beiden erbringen?

In summa: Was aus unserer Welt macht das literarische Geschick Friedrich Grotjahns sichtbar und kann im Sinne Paul Klees als Kunst und nicht nur als Reportage gelten? Manchmal die Entlarvung der Banalität gewisser Milieus der westlichen Welt, manchmal die Schilderung, was sich in alltäglichen Menschen abspielt, wenn sie den Weg ihres Lebens zurückgehen zur »Linde vor dem Vaterhaus«, wenn sie sich erinnern oder ein bestimmtes Grab suchen. Manche der Kurzgeschichten zeigen plastisch, was Begegnungen auslösen: im Flieger, beim Klassentreffen, in einer Polizeidienststelle. Es geht um das Moment der überraschenden Vielfältigkeit gegenwärtigen Lebens.

Zehn der Erzählungen werden eingeleitet durch Tuschzeichnungen von Horst Dieter Gölzenleuchter, der wie Friedrich Grotjahn in Bochum lebt. Bekannt ist er für seine Holzschnitte. Die Arbeiten mit dem Tuschpinsel wirken weicher und fließender, setzen vorab einen besonderen Akzent. Sie sind eine wirkliche Bereicherung, bieten eine eigene Perspektive, sind selbstständige Erzählung mit bildnerischen Mitteln. In »Aurora« zeigen Bild und Erzählung das Geplänkel zwischen einem leicht betrunkenen Odysseus und einer nüchternen Lena, dazu ihre Brigg »Aurora« auf dem Backblech, die am Ende zu Schiffszwieback wird - Tragikomödie eines sich selbst genügenden Pärchens. Besonders ausdrucksstark wirkt das Zusammenspiel von Gölzenleuchters Zeichnung und Grotjahns situationskomischer Text über die »Schöne neue Welt« des schon jahrzehntelang im Umbruch befindendlichen Ruhrgebiets: Das starke, expressive Bild des Covers, eine Collage aus fast allen Illustration des Buches, macht neugierig auf den ganzen Inhalt.

Friedrich Grotjahn: Helga im Kamin und andere Geschichten. Mit Pinselzeichnungen von Horst Dieter Gölzenleuchter. Universitätsverlag Brockmeyer, 135 S., geb., 12,90 €.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal