Die Aburteilungsfabrik ruft zur Show

Im Kriminalgericht Moabit sind heute Besucher die Hauptpersonen

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: 3 Min.

»Im Prozess gegen den Angeklagten alle Prozessbeteiligten eintreten.« Dann und nur dann geht es los. Ein Gerichtsprozess kann nicht beginnen, ohne, dass er öffentlich aufgerufen wird. Der Aufruf ist der Anfang. Nun werden die Türen zum Gerichtssaal und zu den Besucherplätzen geöffnet, und jeder Bürger kann als Zuhörer und Zuschauer an der Gerichtsverhandlung teilnehmen.

Am heutigen Sonnabend gibt es in der Zeit von 10 bis 16 Uhr einen Tag der Offenen Tür in der Turmstraße 91, im 106 Jahre alten Kriminalgericht, und jeder, der einmal Gerichtsluft schnuppern will, kann mal nachschauen, was Justitia so alles treibt. Eine der Grundsäulen der Strafgerichtsbarkeit ist die Öffentlichkeit der Prozesse. Es gibt auch nichtöffentliche Verfahren - immer dann, wenn die Angeklagten Jugendliche sind oder durch die anwesende Öffentlichkeit die Privatsphäre eines Angeklagten elementar verletzt wird. Etwa bei Sexualstraftaten. Doch das ist die Ausnahme.

Die Prozesse, die heute über die Bühne gehen, sind allerdings gestellt und der Wirklichkeit nachempfunden. Doch ansonsten ist alles so wie beim »richtigen« Verfahren. Erst der Aufruf, das Gericht erscheint, alle erheben sich von ihren Plätzen. Wenn der Richter Platz genommen hat, dürfen sich auch die anderen setzen. Auch die Hauptperson, der Angeklagte. Der ist in der Regel männlich. Frauen sind nur zu zehn Prozent an Straftaten beteiligt. Zum Ritual gehört, erst die Personalien des Beschuldigten zu erfragen. Denn es muss eindeutig geklärt sein, dass tatsächlich der Richtige auf der Anklagebank sitzt. Erst danach kann der Staatsanwalt die Anklage verlesen. Die besteht meist aus einem mehr unverständlichen und einen verständlichen Teil. Hat sich jemand eine »fremde bewegliche Sache angeeignet«, dann hat er schlicht und einfach geklaut. Im zweiten Teil der Anklage wird dann der konkrete Tatvorwurf vorgetragen.

Der Angeklagte kann schweigen, alles abstreiten oder gestehen. Das Gericht muss ihm die Tat nachweisen, nicht er muss seine Unschuld beweisen. Ein Zeuge darf nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen. Manche Prozesse dauern nur ein paar Minuten - etwa bei Verkehrsstraftaten. Sie können sich aber auch Monate oder Jahre hinziehen.

Kein Verfahren ist wie das andere. Die meisten Prozesse sind grottenlangweilig - alles »Wissen«, was der juristische Pfadfinder bei Gerichtsshows im Privatfernsehen gelernt hat, sollte er bei der Einlasskontrolle abgeben. Wie auch alle anderen gefährlichen Gegenstände. Fotografieren ist ausdrücklich erlaubt, eine Chance, die Berufsfotografen in Prozessen nicht haben. Sie dürfen nur vor Beginn ihre Aufnahmen machen.

Am Ende, auch des gespielten Verfahrens, wird es heißen: »Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil«. Mehrere tausend Mal im Jahr ergeht dieser Spruch in Moabit. Damit ist dieses Kriminalgericht die größte Aburteilungsfabrik Europas. Wilhelm Voigt, der Hauptmann von Köpenick, der Kaufhauserpresser Dagobert, der einstige Berliner CDU-Größe Landowsky oder Erich Mielke saßen hier auf der Anklagebank.

Ein Bereich wird dem Besucher verschlossen bleiben: die Gänge, die aus dem Untersuchungsgefängnis direkt in den Gerichtssaal führen, um das Vorführgeschehen dem Auge des Betrachters zu entziehen. Beim letzten Tag der Offenen Tür kamen 2600 Besucher ins Kriminalgericht, um ein wenig den Hauch des Bösen einzuatmen.

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