Ein Satz wird Geschick

Friedrich Schorlemmer: »Klar sehen und doch hoffen. Mein politisches Leben«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Dieses Buch ist dick, aber es rennt. Pure Fluchtvergnüglichkeit, könnte man sagen. Normalerweise rennen Memoiren nicht, sie machen sich breit, sie sind rund, sie ruhen. Diese Erinnerungen indes laufen, schlagen Haken. Der Band flieht vor dem Vollendetsein; bereits der Verdacht, hier könne eine gerahmte Schlussbetrachtung der eigenen Existenz vorliegen, darf dem Autor Friedrich Schorlemmer - das merkt man seinem Schreiben an - gar nicht erst aufkommen, und so bleibt er in gefasster Form doch offen, in gestaltender Dramaturgie doch fragmentarisch. Dieses Buch erzählt und kommt erzählend in die Predigt, es ist Erkenntnis und gerät erkennend doch nicht aus dem Bann der Erfahrungen.

In der Meinung, die der Wittenberger Pfarrer von der Welt hat, kommt stets sein Leben vor; die Meinung darf man auch Ethik nennen (drunter macht's Schorlemmer nicht), aber sie geht dem Leben nicht zum huldigenden Munde, sie kommt aus ihm und geht ihm doch voran. Anspruch. Einspruch. Zuspruch. Schorlemmer, der Christ, glaubt. Sein Leben ist der Versuch, auf Maßstäbe mit Beglaubigung zu antworten.

»Klar sehen und doch hoffen«. Der Buchtitel setzt den Sehnsuchtswillen des Menschen in eine mäßigende Beziehung zur wahren Lage, die stets eine bedrohliche, zu Resignation einladende Lage ist. »Friedrich, steh auf!«, sagt der Vater im August 1968 frühmorgens zum schlafenden Sohn, ein Weckruf im unmittelbaren Sinn des Wortes, mehr nicht - in Bezug auf die Nachricht des damaligen Tages, die Russen stünden in Prag, erhält der Satz aber metaphorischen Grund, bekommt haltungsfördernde Kraft. Schorlemmers Geschick: Friedrich, steh auf!

Er wird den Satz nicht mehr los, nicht als junger Pfarrer, nicht als späterer Prediger an Luthers Wittenberger Schlosskirche, nicht als Bürgerrechtler, nicht als Sozialdemokrat, nicht als Publizist. Sein Geschick. Ein Doppelsinnwort. Geschickt werden, etwas zu tun; geschickt sein, es auch tun zu können. Aber darin steckt auch das Wort Schicksal. Geschlagen sein mit einer Aufgabe, einer härtenden, quälenden Einsicht. »Friedrich, steh auf! Vielleicht begriff ich in jenen Augusttagen erstmals, dass Wirklichkeit und Hoffnung aneinanderschlagen können wie unversöhnliche Metalle. Ich werde sein!, tönt die Hoffnung. Ich bin!, klirrt die Wirklichkeit. Und du stehst dazwischen.«

Das ist der Grundton des packenden Buches, das vieles zugleich ist: Literatur, Dokument, Report, Rede, besinnender Vers, politische Reflexion. Schorlemmers Klarsicht, die inmitten tröstender poetischer Denkweise von den Klippen der menschlichen Seele weiß, hat ihren Grund in etwas, das zugleich Motor seiner Unermüdlichkeit blieb: Beim Blick zurück in ein verhasstes »sozialistisches« System summiert sich Unabgegoltenes, das Gegenwartsaufgabe blieb. Freiheit hat das Leben freier, doch auch zügelloser werden lassen; der aufblühende Individualismus ließ doch auch die Egozentrik auf erschreckende Weise von der Leine, und das Ende eines kalten Krieges entließ die Welt doch nicht in den Frieden. Jede Seite des Buches leidet an einem Problem, zerreibt sich an einem Konflikt, trauert über die kurzen Distanzen des politisch herrschenden Denkens, zweifelt am Menschen, senkt den Blick. Aber jede Seite des Buches reißt auch ein Problem an sich, nimmt einen Konflikt als lebendiges Leben, begeistert sich am Denken gegen das Herrschende, freut sich am Menschen, hebt den Blick.

Selbstbestimmung ist für den Christen Schorlemmer nicht eine fraglose Weltbeherrschung, die den Menschen und seinen Fortschrittsdrang über alles setzt, sondern ist beständiger Relativismus. Aus dem Wissen darum, dass wir so gering sind, sprengen wir mit der Welt-Sicht dieses Autors aber den Kreis der isolierten Existenz und gehen aufeinander zu. Schönste Notwehr in Freiheit: ein Stück Freiheit aufzugeben für die des anderen - um selber sicherer zu werden. Aus gelebter Begrenzung kann so das vielleicht Kühnste gelingen: die Mit-Menschlichkeit. »Verbindlichkeiten aus Freiheit heißt: Verlässlichkeit einzuüben im Verhalten zu anderen. Frei sein: Ich bin frei für dich - ich bin frei für mich - ich werde frei für uns.«

Diese Biografie - Biografie eines grundsätzlich Dankbaren, eines dialektisch Für und Wider, Glanz und Grau jeder Lebensstation unsentimental Bedenkenden - bezieht ihre Würde aus dem Wissen um Angreifbarkeit. Sie ist Preis wie Lohn der Souveränität. Gnadenlos die mit Protokollen belegte Abrechnung mit dem DDR-Schnüffel- und Schikanesystem, aber gnadenlos auch die Analysen der westlichen Gesellschaft. Dies erklärt, dass das Buch bei aller federnden Lebendigkeit eben auch ein trauriges Buch ist. Zu anderen Zeiten standen viele gegen ein soziales, gesellschaftliches Elend auf, heute eint unzufriedene Menschen mitunter vorwiegend das Elend, als derart viele so allein zu sein.

Schorlemmer macht Lust auf Besinnung dagegen - die uns davor bewahren kann, zu falschen Tragikern und verlorenen Ironikern, zu zynischen Weltschmerzlern und leichtlebigen Dandys zu werden. Gesund ist, wer in heutiger Welt weiterhin der Entzündbarkeit seines Gewissensnervs ausgeliefert bleibt. Den Ehrentitel »Bürgerrechtler« sähe er daher gern umgemünzt in einen praktischen Solidaritätsdienst jenseits herrschender Parteien und jenseits von »Nostalgievereinen des Widerstandes« aus DDR-Zeiten. »Prüfet alles. Das Gute behaltet.«

Schorlemmer erzählt das, was war, auf eine solche Weise, dass der Leser erfährt, wie es jetzt ist auf der Welt. Und wie Veränderung zu leben wäre. Klar sehend, dass man im Blick auf die Menschheit den Glauben verlieren kann, hoffend aber, dass dieser Glauben im Blick auf den Einzelnen immer wieder zurückkehrt. Noch im zornig entbrennenden Gedanken wider den Ist-Zustand liegt daher ein Staunen über die Wunder dieser Welt. Und des Lebens darin.

Friedrich Schorlemmer: Klar sehen und doch hoffen. Mein politisches Leben. Aufbau Verlag Berlin. 524 S., geb., 22,99 Euro

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