Zwischen Skylla und Charybdis

»The Deep Blue Sea« von Terence Davies

  • Caroline M. Buck
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist ein Weg der Selbstzerstörung und des Hinauswachsens über sich selbst, den Terence Davies mit dieser Terence-Rattigan-Verfilmung in eine bildschöne Form bringt, ein Weg aus der gepflegten Langeweile in die ungezügelte Leidenschaft, ein Weg, an dessen Rand schließlich beides zurückbleibt, was - vielleicht, mit sehr viel Glück - eine neue, noch ganz unbekannte Zukunft möglich macht. »The Deep Blue Sea« (Tiefe blaue See) ist zugleich die melodramatische Selbstinszenierung einer wohlverheirateten Ehefrau aus der oberen Mittelschicht in den britischen Nachkriegsjahren, die aus ihrer Ehe ausbricht, um ihrer jähen Leidenschaft für einen jüngeren Mann zu folgen, und ein Stimmungsbild der englischen Nachkriegsjahre mit ihrer anhaltenden Lebensmittelrationierung, ihrer Mängelwirtschaft, ihren Sparsamkeitszwängen und sicht- und spürbaren Kriegsspätfolgen.

Ein Melodram in der Art zeitgenössischer Melodramen - und auch wieder nicht. Hester, Lady Collyer (der Vorname ist hinreichend ungewöhnlich in der englischen Sprache, dass die Assoziation zu einer anderen ehebrecherischen Hester, Hester Prynne aus Nathaniel Hawthornes »Der scharlachrote Buchstabe«, sich unmittelbar aufdrängt) ist mit einem Juristen verheiratet, einem wohlhabenden, väterlich-ältlichen Mann, der sich nie ganz von seiner dominanten Mutter frei schwamm. Als sie unter seinem Dach Freddie Page kennenlernt, einen ehemaligen Piloten der Royal Air Force, jung, sinnlich und verliebt in Luft, Licht, Geschwindigkeit und Rausch, gibt sie die Sicherheit ihrer Position auf, um ihm in seine schäbige Mietwohnung zu folgen, wo sie als Mr. und Mrs. Page zusammenleben.

Aber Freddie ist einer jener früh verbrannten, kriegstraumatisierten jungen Fliegerhelden (einer der wenigen, die die Battle of Britain, die Luftschlacht um Großbritannien, überhaupt überlebten), die zeitlebens dem Adrenalinhoch ihrer frühen Jahre nachlaufen und nie ganz über das Jahr 1940 hinauswachsen, in dem sie ihre größten Tage hatten. Von Hesters hungriger Anhänglichkeit überfordert, weicht er ihr zunehmend aus. Sie schluckt Aspirin und dreht den Gashahn auf. Damit beginnt der Film, um nach Hesters Rettung durch Freddies (unerwartet verständnisvolle) Vermieterin zwischen Hesters Erinnerungen an die Vorgeschichte und Momenten der sich anbahnenden Trennung von Freddie hin- und herzuspringen.

Rattigan, zu dessen hundertstem Geburtstag im letzten Jahr der Film entstand, wurde zu seiner Dreiecksgeschichte durch die Selbsttötung eines früheren Liebhabers inspiriert, sein Stück deshalb seit seiner Uraufführung im Jahr 1952 gern als schicklich verbrämte Tragödie einer damals noch strafrechtlich relevanten homosexuellen Liebe verstanden. Davies, ebenfalls schwul, gibt nur einen flüchtigen Hinweis darauf, dass ihm diese Interpretation geläufig ist, und erzählt ansonsten ganz aus der Perspektive seiner zur Sinnlichkeit erwachten Heldin. Rachel Weisz spielt Hester Collyer als Frau, die einerseits klarsichtig die ausweglosen emotionalen Abgründe vorhersieht, in die ihre Leidenschaft sie stürzt, und andererseits nicht anders wollen kann, als sie trotz allem auszuleben.

Tom Hiddleston, jüngst der intrigante Götterbruder Loki in Kenneth Branaghs US-Spektakel »Thor« und F. Scott Fitzgerald in Woody Allens »Midnight in Paris«, ist ein glaubhaft zerrissener Schürzenjäger und Kindmann; Simon Russell Beale, einer der renommiertesten Bühnendarsteller dieser Zeit, zeigt als Sir William Collyer die selbe Nettigkeit und abhängige Schwäche im Verhältnis zu seiner Frau, die er auch seiner Mutter entgegen bringt. Es wird viel gemeinschaftlich gesungen in Kneipen und in einem zum Ersatzbunker umfunktionierten U-Bahnhof, ein häufiger Rückgriff bei Davies auf seine eigenen Kriegszeiterinnerungen. Und was für David Leans »Begegnung« (Brief Encounter) nach einer Vorlage von Noël Coward 1945 Rachmaninows 2. Klavierkonzert war, das ist für Davies' Version von »Tiefe blaue See« das Concerto für Violine und Orchester, Op.14, von Simon Barber.

Die Perfektion seiner Adaption von Edith Whartons »The House of Mirth« (die deutsche Kinofassung unter dem Titel »Haus Bellomont« ging im Herbst 2001 mit der Insolvenz des hiesigen Verleihers sang- und klanglos unter) erreicht Davies mit »The Deep Blue Sea« vielleicht nicht. Ein wunderbar gespielter, bildschön ausgestatteter Film mit einem kunstvoll rhythmisierten Wechselspiel von Blicken und Gesten, sprechendem Schweigen und großen musikalischen Stimmungen ist »The Deep Blue Sea« aber auch geworden.

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