... nur in der Breite ist sie zu schmal

In einem Modellprojekt in Sachsen-Anhalt soll das Korsett der Elbe gelockert werden

  • Hendrik Lasch, Lödderitz
  • Lesedauer: ca. 6.0 Min.

Die Elbe ist von Dresden bis zur Mündung zwischen Deiche gezwängt. Das August-Hochwasser konnten viele der Dämme aber nicht bremsen. Auch in Sachsen-Anhalt soll der Fluss nun etwas mehr Raum erhalten.

Korsagen sind Marterinstrumente. Sie sollen die Umhüllte in eine gesellschaftsfähige Form zwängen. Freilich: Endlos kann die Hülle nicht zusammengezurrt werden. Wenn der anschwellende Korsettinhalt Stangen und Schnüre sprengt, sind die Folgen fatal. Die Elbe hatte ihr Korsett bei Seegrehna südlich von Lutherstadt Wittenberg zum Bersten gebracht. Der Fluss hatte sich eine schwache Stelle gesucht: Wo heute ein schnurgerader Erdwall durch die Wiesen pflügt, mäanderte einst ein Seitenarm. Das Grundwasser schnörkelt noch immer auf dieser Route durch den Untergrund, sagt Georg Rast vom Auen-Institut des World Wide Fund for Nature (WWF). Als das Elbe-Hochwasser keinen Ausweg mehr fand, grub es sich, dem alten Wasserlauf folgend, erst unter und dann durch den Deich. Leidtragende waren die Seegrehnaer und ihre Äcker, die noch heute ein Bild verschlammter und müllübersäter Felder bieten. Das Korsett der Elbe ist heute fast lückenlos. Zwischen Dresden und der Elbemündung gibt es noch fünf Flusskilometer, die nicht auf beiden Seiten von Deichen eingefasst sind. Wenn die Pegel steigen, werden aus manchen Taillen gefährdete Nadelöhre. Auf den Fluss trifft zu, was Chris Doerk einst in einem Schlager über eine Hängematte behauptete: »... doch in der Breite ist sie viel zu schmal«. Die Deiche entlang der Elbe sind Herrschaftssymbole im Ringen zwischen Mensch und Fluss. »Kolonisieren oder krepieren«, lautete die Devise, als der preußische Kurfürst Friedrich II. seine Untertanen an die Elbe schickte, erzählt der Historiker Reinhard Rochlitzer. Die Kolonisatoren sollten neues Ackerland erschließen. Wer aber Land gewinnen wollte, musste den Fluss zähmen. 26 Kilometer Deich legten die Preußen deshalb zwischen 1856 und 1861 durch den Lödderitzer Forst. Der Kampf war damit zwar nicht entschieden: Schon 1865 kam es zu einem ersten, derart verheerenden Deichbruch, dass die Dorfbewohner sich auf Scheunentoren rudernd retten mussten. Unterm Strich aber betrachten sich die Flussanwohner als Sieger über den Strom. Rund 80 Prozent ihrer ursprünglichen Überflutungsflächen wurden der Elbe abgetrotzt. Auf dem Schwemmland wachsen heute Getreide, Mais und Rüben. Allein zwischen Wittenberg und Barby leben über 100000 Menschen direkt am Fluss. Fluten wie im August dieses Jahres zeigen jedoch, wie zerbrechlich das Zusammenleben von Mensch und Fluss auch an der Elbe ist. Trotz verzweifelter Sandsackschlachten brach die Rekordflut die sachsen-anhaltischen Elbdeiche an 41Stellen, sagt Burkhard Henning, Chef des Landesbetriebes für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft. Die Schäden, die der Fluss in Orten wie Dessau-Waldersee angerichtet hat, sind verheerend. Mancher Anwohner will wegziehen, sagt Henning: »Andere klammern sich an einen normgerechten Ausbau der Deiche.« Während jedoch viele Flussanlieger ihr Heil in festeren Wällen sehen, geht ein Modellprojekt an der Mittleren Elbe jetzt neue Wege: Durch eine Rückverlegung des Deiches soll das Korsett gelockert und dem Fluss mehr Raum gelassen werden. Denn höhere Wälle vermittelten eine »trügerische Sicherheit«, sagt Rast: Bei einem Bruch hätte das höher aufgestaute Wasser auch ein »unendlich größeres Schadenspotenzial«. Wenn sich das Wasser dagegen ausbreiten kann, vermindern sich Geschwindigkeit und Höhe der Flutwelle. Ein Rückzug der Deichlinien wird an der Elbe seit langem diskutiert. Er sollte Teil eines Aktionsplanes sein, den die »Internationale Konferenz zum Schutz der Elbe«, ein Gremium aller Elbanliegerstaaten, ursprünglich Ende Oktober vorlegen wollte. Wegen des August-Hochwassers wird der Plan jetzt noch einmal überarbeitet. Die planerischen Voraussetzungen für eine Verlegung von Deichen sind in Sachsen-Anhalt günstig, sagt Karl-Heinz Jährling von der Verwaltung des Biosphärenreservats Mittlere Elbe. Im 1999 verabschiedeten Landesentwicklungsplan sind 45entsprechende Gebiete ausgewiesen. Die Überflutungsflächen von heute 43000 Hektar könnten sich um 20000 Hektar vergrößern. Das sind, wie Jährling einräumt, »Idealvorstellungen«. Vorerst, sagt der Wasserwirtschaftler, müsse man sich auf einzelne, besonders enge Stellen konzentrieren. Dass die Fachleute den Pegel ihrer Erwartungen selbst senken, liegt zum einen an den Kosten. Deichbau, sagt Georg Rast, sei zwar »nicht schwieriger als der Bau einer Bundesstraße«. Vergleichbar sind aber auch die Preise: Pro Kilometer müssen jeweils 1,5Millionen Euro veranschlagt werden. Hochwasserschutz ist Angelegenheit der Länder. Derzeit leistet sich Sachsen-Anhalt pro Jahr gerade einmal 20 Millionen Euro für die Sanierung bestehender Deiche. Das reicht für jeweils 20 von insgesamt 580 Kilometern Elbdeich. Von Neubau ist dabei noch keine Rede. Viel problematischer ist indes der Umstand, dass sich Fluss und Menschen in der Elbtalaue keinen Quadratzentimeter zu schenken haben. Selbst wenn Siedlungen ausgespart würden, komme man bei der Verlegung von Deichen »gar nicht umhin, auf landwirtschaftliche Flächen zuzugreifen«, sagt Rast. Ganz gleich, wo das Korsett gelockert wird: »Wir haben 100 Prozent Konfliktpotenzial.« Welch »zähes Geschäft« die Interessenabwägung ist, illustriert ein Projekt im nordbrandenburgischen Lenzen. Dort wird seit 1992 über die Preisgabe von 450 Hektar Ackerland diskutiert, verhandelt. Dass der neue, ins Hinterland verlegte Deich steht, erwarten Optimisten für 2007. Es ist daher kein Wunder, dass das bisher einzige konkrete Vorhaben für eine Deichverlegung in Sachsen-Anhalt im Steckby-Lödderitzer Forst angegangen wird. Das Waldgebiet - seit Anfang des 20. Jahrhunderts ein Biber- und Vogelreservat - steht seit 1979 unter dem Schutz der UNESCO, bildet heute eine Kernzone des Biosphärenreservates Mittlere Elbe. Den Wald vollständig als Überflutungsfläche zu nutzen, wäre sinnvoll, sagt Astrid Eichhorn. Die WWF-Mitarbeiterin leitet das Vorhaben, mit dem je nach Variante zwischen 460 und 630 Hektar Flussaue zurückgewonnen werden könnten. Große Teile des Forstes seien »weitgehend intakter Auenwald«. Im häufig überschwemmten Uferbereich stehen Weiden und Pappeln, landeinwärts folgen Eichen, Eschen und Ulmen, die ebenfalls gelegentlich »nasse Füße« brauchen. Mit der Verlegung des Deiches soll ein »Wiederaufbau« solcher Baumarten einhergehen: »Wir wollen eine echte, überflutbare Aue schaffen.« Natur- und Hochwasserschutz gingen eine sinnvolle Verbindung ein. Dafür wird der WWF sogar zum Landbesitzer. Einem im Jahr 2000 verabschiedeten Programm zufolge können Naturschutzverbände in Ostdeutschland rund 100000 Hektar Boden aus Bundeseigentum erhalten. Im Steckby-Lödderitzer Forst hat der WWF bereits mehrere Parzellen gekauft; insgesamt sollen 800 Hektar erworben werden. »Privatleute würden die Flächen nicht kaufen«, sagt Astrid Eichhorn: »Denn wirtschaftlich sollen die Gebiete nicht mehr genutzt werden.« Trotzdem erregt die geplante Lockerung des Flusskorsetts Anstoß. Am Waldrand, wo der Deich künftig einmal verlaufen könnte, beginnen die Felder eines Agrarbetriebes; in Sichtweite stehen die Häuser der Orte Kühren und Lödderitz. »Unsere Flächen werden natürlich beeinträchtigt«, sagt Landwirt Frank Stolze. Der Bauer fürchtet vor allem das so genannte Drängwasser, das bei Hochwasser unter dem Deich durchgedrückt wird. Stolze beklagt, dass Systeme zur Bodenentwässerung bereits jetzt nicht mehr funktionieren. Auch die Dorfbewohner sind skeptisch: Viele haben ihre Häuser unterkellert und befürchten nun eindringendes Grundwasser. Bauernfunktionäre wie Heinz Vierenklee geben sich kompromissbereit. »Die Bauern in der Region mussten immer mit Hochwasser leben«, sagt der Verbandschef. Die Überflutungsauen seien als Weideflächen genutzt worden. Vierenklee hofft auf Flächentausch und auf Vereinbarungen zum Vertragsnaturschutz, bei dem Landwirte sich zu eingeschränkter Nutzung bereit erklären und im Gegenzug einen finanziellen Ausgleich erhalten. Die angekündigte Neustrukturierung der EU-Agrarförderung dürfte solche Vorhaben künftig weit populärer werden lassen. Derzeit winken Landwirte wie Frank Stolze angesichts der befürchteten Formularflut aber entnervt ab: »Ich bin schon jetzt ein schreibender Bauer.« So wundert es wenig, dass für das WWF-Projekt zur Deichverlegung zehn Jahre veranschlagt sind. Und ob das Flusskorsett auch an anderen Stellen gelockert wird, ist derzeit nicht abzusehen. Zwar will die Landesregierung bis zum Jahresende eine neue Konzeption zum Hochwasserschutz ausarbeiten. Doch die Verbindung mit Naturschutzprojekten könnte dabei künftig schwierig werden, befürchten Fachleute: Vielerorts wurde ein überbewerteter Umweltschutz nach dem Hochwasser zum Sündenbock für gebrochene Deiche gemacht. Die zuständige Landesministerin Petra Wernicke (CDU) hat der SPD-Vorgängerregierung denn auch bereits vorgeworfen, zu viel Geld für den Umwelt- und zu wenig für den Hochwasserschutz ausgegeben zu haben. Um eine Lockerung der Korsettstangen wird man indes nicht herumkommen, glaubt Karl-Heinz Jährling vom Biosphärenreservat Mittlere Elbe und zitiert eine Autorität: Nach dem Oderhochwasser 1997 war es ausgerechnet Helmut Kohl gewesen, der »mehr Raum für Flüsse« forderte. Er wird gewusst haben, wovon er redet: In ein Korsett hat sich auc...

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