Das Grabkreuz

  • Gerhard Dengler
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.

Kurt Pätzold: Stalingrad und kein Zurück. Wahn und Wirklichkeit. Militzke, Leipzig. 224S., geb., 17,90 EUR.

Wenn man wie ich die Stalingrader Schlacht vom Anfang bis zum bitteren Ende miterlebt und miterlitten hat, dann sieht man jedem weiteren neuen Buch, das die bereits schier unüberschaubare Fülle der Publikationen zum Thema erweitert, skeptisch entgegen. Ist nicht schon alles gesagt und geschrieben? Gibt es überhaupt noch Neues zu vermitteln? Der Berliner Geschichtsprofessor Kurt Pätzold beweist: Es ist möglich. Rechtzeitig zum 60. Jahrestag der Schlacht legt er sein Buch vor. Er hat sich die Aufgabe gestellt, deren historisches Umfeld zu erforschen. Dazu hat er eine Fülle bekannter und unbekannter Quellen erschlossen, darunter die Pläne und Planungen des OKW, die zu Spannungen mit dem Führerhauptquartier und zur Ablösung opponierender Generäle bzw. deren Unterwerfung führten, darunter die Tischreden Hitlers, die einem noch heute Gänsehaut über den Rücken treiben, aber auch Auszüge aus überraschend sachlichen und kritischen Analysen des faschistischen Sicherheitsdienstes (SD). Gründlich setzt sich Pätzold mit der langsam veränderten Stimmung in der deutschen Bevölkerung auseinander. Zitiert wird vom Autor das große Echo, das die Sieger an der Wolga bei den Alliierten, den Widerstandsorganisationen in den NS-okkupierten Ländern sowie im neutralen Ausland fanden. Diese sehr gründliche und umfassende Untersuchung wird sicher ein breites Publikum finden. Empfohlen sei die Lektüre vor allem jenen Historikern, die während des Kalten Krieges nicht vor groben Verfälschungen zurückschreckten und in jener Schlacht nicht einen Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg zu erkennen vermögen. Es wird mir sicher nachgesehen werden, wenn ich mich als Zeitzeuge ergänzend zu Pätzolds Buch äußere. Wie schon beim Vormarsch an den Don war ich auch beim Vormarsch an die Wolga mit meinen vier Geschützen der Panzervorausabteilung unter Oberst von Strachwitz zugeteilt worden. Am 23. August 1942 erreichten wir bei Rynok die Wolga. Wir sahen den in der Abendsonne glitzernden gewaltigen Fluss und das durch das Bombardement der Stukas brennende Stalingrad. Über der Stadt schwebte - von getroffenen Öltanks - eine riesige schwarze Wolke, die durch die Thermik zu einem Kreuz geformt wurde. Wir deuteten es als Sterbezeichen für die Stadt. Dass es das Grabkreuz der 6. Armee werden würde, ahnte niemand von uns. Wir glaubten mit dem Erreichen der Ufer der Wolga, der Krieg sei entschieden, seinem Ende nahe. Unsere Division bildete dann die so genannte Nordriegelstellung. Pätzold meint, das Fehlen unserer Division in Stalingrad habe die dortigen Kräfte geschwächt. Die »Nordriegelstellung« hat Entlastungsangriffe abgewendet. Nach Beginn der russischen Offensive kam aber der Befehl, unsere gut ausgebauten Stellungen zu verlassen, sich nach Westen zu bewegen und den dortigen Übergang über den Don, die wichtigste Nachschublinie für die 6. Armee, zu schützen. Das erwies sich in der Folge als unmöglich, Wir mussten uns immer weiter nach Osten zurückziehen. Zu Weihnachten erreichten wir den westlichen Stadtrand von Stalingrad. Wegen Munitions- und Benzinmangels hatten wir unsere Geschütze zurücklassen müssen, wir kämpften jetzt als Infanteristen. Unsere Lage wurde immer hoffnungsloser. Wir lutschten Schnee gegen den Durst; es gab auch Fälle von Kannibalismus. Per Flugblätter hatte die Rote Armee am 8. Januar 1943 ein Kapitulationsangebot unterbreitet. Mit einem dieser Zettel in der Hand ging ich zu meinem Regimentskommandeur und forderte ihn auf, im Auftrage der kämpfenden Truppe Paulus zur Annahme des Kapitulationsangebots zu zwingen. Mein Kommandeur lehnte ab und sagte, das solle ich doch selber versuchen. Ich schlug mich bis zum Armeehauptquartier durch, erkämpfte mir Zugang zu Paulus und trug ihm mein Anliegen vor. Der wiederum meinte, ich hätte es einfach, ich sähe nur das Weiße im Auge des Feindes, er aber müsse höheren strategischen Aufgaben Rechnung tragen. Damals empfand ich seine Worte als feige Ausrede. Als ich erwiderte, wir hätten doch überhaupt keinen Kampfwert mehr, sagte Paulus zu mir: »Jetzt ist die Stunde gekommen, wo die Initiative auf die unteren Truppenführer übergeht.« Es dauerte eine Zeit, bis ich diesen Satz als Kapitulationsfreigabe begriffen hatte. Pätzold irrt also, wenn er schreibt, dass es keine Teilkapitulationsmöglichkeit ge...

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