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Atomwaffenversuche an der Elbe?
Experten vermuten, dass vertuschter Unfall in Forschungszentrum für Leukämie verantwortlich ist
Erstmals nach zwei Jahren trat gestern Abend die Leukämiefachkommission des Landes Schleswig-Holstein zusammen. Nach Redaktionsschluss präsentierten Wissenschaftler dem Gremium brisante Erkenntnisse.
In der Elbmarsch südöstlich von Hamburg geht schon lange die Angst vor Blutkrebs um. Rund 8000 Menschen leben am schleswig-holsteinischen und niedersächsischen Flussufer in einem Umkreis von fünf Kilometern um das Atomkraftwerk Krümmel und das Forschungszentrum der GKSS (Gesellschaft zur Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt). Mindestens 21 Personen sind seit 1989 hier an Leukämie erkrankt, drei Kinder starben bereits an der Krankheit. Statistisch wäre nur alle 20 Jahre ein solcher Fall zu erwarten gewesen.Viele Einwohner und Wissenschaftler verdächtigten lange Zeit den Siedewasserreaktor in Krümmel, für radioaktive Emissionen und die erhöhte Leukämierate verantwortlich zu sein. Doch nun steht die These im Raum, dass Strahlung aus den Laboren der GKSS entwichen ist - möglicherweise bei Experimenten zur Erforschung von Atomwaffen.
Wissenschaftler der Arbeitsgemeinschaft Physikalische Analytik und Messtechnik (ARGE PhAM) aus Hessen wollten der Leukämiekommission gestern über den Fund plutoniumhaltiger radioaktiver Partikel in der Elbmarsch berichten. In Bodenproben hatten die Forscher millimetergroße Kügelchen entdeckt, so genannte »PAC-Kügelchen« (PAC = Plutonium, Americium, Curium). Nach Angaben des Physikers und letzten DDR-Umweltministers Sebastian Pflugbeil bestehen diese aus einer harten Hohlkugel, die im Inneren winzige Mengen radioaktiver Substanzen enthält. Darunter das extrem giftige und hochradioaktive Plutonium, von dem schon ein Millionstel Gramm reicht, um Lungenkrebs zu verursachen.
Geheimnisvolle PAC-Kügelchen
Experten zufolge entstehen PAC-Kügelchen mit dieser Zusammensetzung nicht in Atomkraftwerken, wohl aber bei militärischen Versuchen mit schnellen Neutronen. Pflugbeil mutmaßt nun, dass bei der GKSS an »atomaren Mikro-Explosionen« gearbeitet wurde und dass es bei diesen Experimenten einen Unfall gab, bei dem die Kügelchen an die Umgebung gelangten. Aus Kreisen der ARGE PhAM, die nicht als atomkritische Vereinigung gilt, war zu erfahren, dass der PAC-Brennstoff bei einer Explosion vor rund 16 Jahren freigesetzt worden sein könnte.
Pflugbeil hat nach eigenen Angaben in Unterlagen des ehemaligen DDR-Ministeriums für Staatssicherheit Belege gefunden, die den »schrecklichen Verdacht« erhärten, dass bei der GKSS an Kernwaffen geforscht wurde. Die besorgten Autoren der einschlägigen MfS-Untersuchung nannten in diesem Zusammenhang namentlich Professor Friedwardt Winterberg, der zunächst in der GKSS arbeitete und später nach Reno (Nevada, USA) ging. Er soll über mehrere Patente verfügen und sich intensiv mit den militärischen Aspekten der Atomkraftnutzung befasst haben.
Die GKSS wurde in den 50er Jahren auf dem Gelände der ehemaligen Dynamitfabrik Nobel in Geesthacht von Physikern mit massiver Unterstützung des damaligen Atomministers Franz-Josef Strauß mitbegründet. Einer der Gründer war Professor Erich Bagge, der zu den deutschen Physikern gehörte, die es glücklicherweise nicht schafften, für Hitler die Atombombe zu bauen. Anders als etliche seiner berühmten Kollegen wie Max Born, Otto Hahn, Walter Gerlach und Werner Heisenberg hat Bagge jedoch die von Carl Friedrich von Weizsäcker initiierte Göttinger Erklärung gegen den Einsatz von Atomwaffen vom 12.April 1957 nicht unterzeichnet.
Am Anfang war der Schwimmbadreaktor
Offiziell sollte die GKSS Atomanlagen für die Schifffahrt nutzbar machen. Aus den USA importierte man einen kleinen Druckwasserreaktor und baute ihn in das Forschungsschiff »Otto Hahn« ein. Weitere Aufgabe war die Forschung an Sicherheitskomponenten für Reaktortechnik und an Hüllrohren für Brennelemente. 1958 wurde ein so genannter Schwimmbadreaktor mit 5000 Kilowatt Leistung in Betrieb genommen, 1963 ein zweiter mit der dreifachen Leistung. Dieser Meiler wurde 1995 stillgelegt.
Heute sind die Aufgaben vielfältiger. Die GKSS beschäftigt rund 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 85Prozent des Budgets von 65 Millionen Euro werden durch Bund und Ländern aufgebracht. In dem Zentrum, das zu den insgesamt 15 nationalen Einrichtungen der Hermann von Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren (HGF) gehört, wird aktuell zu den Schwerpunkten Werkstoffe, Wasserstoff, Chemie und Küstenentwicklung geforscht. Auf dem Gelände befindet sich aber auch die Landessammelstelle für schwachaktiven Müll, und auch der wieder ausgebaute Reaktor aus »Otto Hahn« lagert auf dem Areal.
Die GKSS dementiert bislang ebenso wie die Kieler Landesregierung, dass früher an atomaren Miniexplosionen oder überhaupt mit PAC-Kügelchen gearbeitet worden ist. GKSS-Sprecherin Maren Menzel verwies gegenüber ND auf eine schriftliche Stellungnahme der Einrichtung. Danach ist »die öffentlich geäußerte Vermutung, GKSS habe geheime Forschungsarbeiten zu so genannten PAC-Brennelementen durchgeführt, falsch«. Zum einen seien diese Brennelemente in der Fachwelt unbekannt, zum anderen habe GKSS niemals eigene Forschung für deren Entwicklung betrieben. Zumindest der erste Teil dieser Behauptung ist unwahr, denn in der Fachliteratur wird umfassend über die Kügelchen berichtet. Die Gesellschaft für Reaktorsicherheit, deren Präsident Pflugbei ist, hat in Erfahrung gebracht, dass PAC-Kügelchen in großem Maßstab in den Ato...
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