Flucht-Passagen über die Pyrenäen

Hart an der felsigen Mittelmeerküste verlief einer der legendären Fluchtwege deutscher Antifaschisten aus Frankreich. Eine Spurensuche.

  • Jochen Reinert
  • Lesedauer: ca. 7.5 Min.
Roger Rull reckt seinen Arm weit nach vorn - als ob er hinaufreichen könnte in die Berge über Banyuls-sur-Mer. »Hier hinauf, rechts von dem Hochspannungsmast unterhalb des Bergrückens, führte die Route, auf der die deutschen Nazi-Gegner in die Freiheit gelangten«, zeigt der schmale weißhaarige Nachkomme spanischer Emigranten, der seinen Platz im Bürgermeisteramt von Banyuls für eine Weile verlassen hat.
Banyuls ist einer der drei begnadeten Sonnen-Orte, an deren Küsten die Pyrenäen abrupt ins Mittelmeer tauchen. Während sich die Bahn nur durch Tunnels den Weg zu bahnen vermag, schraubt sich das dunkle Asphaltband der Straße über die Gebirgsausläufer, die Frankreich und Spanien scheiden. Cérbère ist für die Bahnreisenden letzter Halt auf französischem Boden. Dann rasen die Züge hinüber zum spanischen Port Bou.
Cérbère war auch Endstation von Kurt Tucholskys Pyrenäenreise im Herbst 1925 - doch der Meister mit den 5 PS konnte damals nicht ahnen, dass hier nur 15 Jahre später der 70-jährige Heinrich Mann und der schwer kranke Franz Werfel mit ihren Angehörigen auf der Flucht vor dem Nazi-Regime wie Diebe hinter den Friedhofsmauern über die Berge ins rettende Port Bou kraxeln mussten. Der Journalist Varian Fry hatte sie im Auftrag des in New York von europäischen Emigranten (darunter Thomas Mann) und USA-Intellektuellen gegründeten Emergency Rescue Committee hierher geleitet. Fry selbst habe sie über die Berge geführt, heißt es. Doch Ruth Werfel, eine Zürcher Cousine des Schöpfers des Romans »Die 40 Tage des Musa Dag«, die an diesem Tage bei uns ist, meint, es sei nicht Fry, sondern Dick Ball, ein Mitarbeiter, gewesen. Seis drum, Erinnerung hat so viele Gesichter.

Gefahrvoller Übergang auf der »Route Lister«
Der Weg der Manns und Werfels war schon wenige Tage nach deren Passage im September jenes Schicksalsjahres, in dem sich nicht weniger als 50000 nach Frankreich geflohene deutsche Antifaschisten tödlicher Bedrohung ausgesetzt sahen, durch verschärfte Grenzkontrollen der französischen Kollaborateure versperrt. »Als einziger Weg«, skizziert Bürgermeister Rull die damalige Situation, »blieb ein gefahrvoller Schmugglerpfad von hier nach Port Bou, den schon die Franco-Gegner während des Spanischen Bürgerkrieges benutzten.« Die Spanier hatten ihn nach einem ihrer Generäle »la Route Lister« benannt. »Doch heute nennen wir ihn Route F - in Erinnerung an Lisa und Hans Fittko.« Die beiden deutschen Antifaschisten, Lisa hatte den Kommunisten Hans Fittko im Prager Exil geheiratet, haben hier ein erregendes Kapitel Emigrationsgeschichte geschrieben. Sie brachten mehrere hundert Verfolgte über den schwierigen Weg nach Port Bou, wo die meisten von ihnen, misstrauisch von den Franco-Spaniern überwacht, den Zug nach Lissabon bestiegen - dem Tor zur Freiheit.
Wir stehen am Rande von Banyuls vor einem ungewöhnlichen Denkmal. Ein breites eisernes Band läuft auf dem Boden in Richtung der Berge und erhebt sich zu einer Tafel, auf der geschrieben steht: »"Es war das Selbstverständliche". Dem Andenken von Lisa und Hans Fittko und der vielen anderen. Von September 1940 bis April 1941 führten sie - selbst bedroht - Verfolgte des Nazi-Regimes über die Pyrenäen. Ihre tapfere Tat rettete vielen Menschen das Leben.« Anfang vorigen Jahres war das von dem israelischen Künstler Dani Karavan aus nicht rostendem Eisen vom Mont Canigou geschaffene symbolische Mal eingeweiht worden. Bürgermeister Rull sorgte dafür, dass es auf dem Tourismus-Plan des Ortes seinen Platz findet, aber 80 Prozent der Bewohner, so Rull bekümmert, wüssten nichts von dieser heroischen Geschichte.
Hohe Dramatik und manches Rätsel umgibt vor allem die erste Tour Lisa Fittkos, die Rettungsaktion für den Berliner Philosophen Walter Benjamin. Auch diesmal hatte Varian Fry, der möglichst viele der vom Vichy-Frankreich zu »feindlichen Ausländern« gestempelten deutschen Intellektuellen retten sollte, seine Hände im Spiel. Benjamin, der zunächst wie die anderen deutschen Emigranten einige Monate unter unwürdigen Zuständen in einem Internierungslager verbracht hatte, war von Marseille nach Banyuls gekommen, um mit zwei zufälligen Weggefährten die Flucht über die Berge zu wagen.
Roger Rull - wir gehen unterdessen gemeinsam ein Stück des legendären Fluchtweges - weiß zu berichten, dass sein damaliger Vorgänger, der Sozialist Azéma, Lisa Fittko und Walter Benjamin genau über die Standorte der Grenzposten und die Route instruiert hatte. Nach den Vorschriften der Vichy-Behörden hätte er sie anzeigen müssen. Azéma riet auch, sich unter die Weinbauern zu mischen, die morgens zur Arbeit in die Berge ziehen. Gesagt getan. Doch für den kranken Benjamin war der lange steile Aufstieg an jenem 26. September eine Tortur. Viele Male mussten sie halten. »Dann erreichten wir den Gipfel«, berichtet Lisa Fittko in ihrem Buch »Mein Weg über die Pyrenäen«, »Weit unten... sah man wieder das tiefblaue Mittelmeer. Auf der anderen Seite, vor uns, fielen schroffe Klippen ab auf eine Glasplatte aus durchsichtigem Türkis - ein zweites Meer. Ja natürlich, das war die spanische Küste. Hinter uns Katalaniens Roussillon mit der Côte Vermeille, der Zinnober-Küste, einer herbstlichen Erde mit unzähligen gelb-roten Tönen. Ich schnappte nach Luft. Solche Schönheit hatte ich noch nie gesehen.«

Lager an der Sonnenküste waren ein Tabu-Thema
Das gleiche erhebende Gefühl mögen anderthalb Jahre zuvor die geschlagenen Republikaner gehabt haben, als sie, bedrängt von den Franco-Truppen, das rettende Frankreich vor sich sahen. Doch ihnen erging es nicht anders als den deutschen Antifaschisten. »500000 republikanische Flüchtlinge«, erzählte uns tags zuvor Serge Barba in der internationalen Begegnungsstätte »La Cuome« nordwestlich von Perpignan, »strömten im Februar 1939 in der bis dahin größten europäischen Fluchtbewegung nach Roussillon. 100000 wurden auf dem Strand von Argeles-sur-Mer in ein provisorisches Lager gesperrt, das man anfangs Camp du Concentration nannte. Sie hatten in der Winterkälte keinerlei Dach über dem Kopf, mussten sich mit bloßen Händen in den Sand graben. Täglich starben 40 von ihnen.« Unbegreiflich die feindselige Haltung in der Bevölkerung Roussillons - obwohl ein Drittel der Flüchtlinge wie sie selbst Katalanen waren.
Serge Barba weiß, wovon er spricht. Sein Vater war selbst über die Pyrenäen geflohen und in Argeles interniert worden. Erst nach einem Jahr wurde er entlassen - als billige Arbeitskraft eingesetzt. Heute ist Barba Aktivist der Assoziation der Söhne und Töchter der republikanischen Flüchtlinge, die die Erinnerung an jene Jahre wach hält und auf das Schicksal heutiger Migranten aufmerksam macht. Lange waren die Lager von Argeles und Saint-Cyprien an der Sonnenküste ein Tabu-Thema. Erst voriges Jahr wurde am Strand von Argeles ein Gedenkstein errichtet, begleitet von der Aktion »100000 Kerzen für 100000 Flüchtlinge«.
Zurück zu Lisa Fittko auf dem Scheitel der Pyrenäenausläufer. Wenig später, schon auf spanischem Boden, hatte sie sich von Walter Benjamin verabschiedet, freudig erregt, dass letztlich doch alles gut gegangen war. Vor ihnen lag zum Greifen nahe das spanische Zollamt, auf dem sich Benjamin melden sollte. Von hier an gibt es verschiedene Versionen über das Schicksal des prominenten Flüchtlings - Raum für manche Legende. Fest steht, dass der völlig entkräftete Benjamin am nächsten Tag tot in einer Pension aufgefunden wurde. Er habe Selbstmord begangen, heißt es, nachdem ihm die spanischen Behörden die Abschiebung nach Frankreich angedroht hatten. Jay Parini lässt in seinem Benjamin-Roman »Dunkle Passagen« seinen Helden an Herzschwäche sterben. »Ein Mysterium«, kommentiert Bürgermeister Rull den Tod des materialistischen Analytikers des Konsum-Kapitalismus, der mit der bundesdeutschen 68er Bewegung wiederentdeckt wurde.

Gedenkort auf dem Hafenfelsen von Port Bou
»Es war das Selbstverständliche«, hat Lisa Fittko, die hoch betagt in Chicago lebt und lange in der Friedensbewegung aktiv war, bescheiden über ihre Fluchthilfe notiert. Sie war tief erschüttert, als sie eine Woche später vom Tode Benjamins hörte. Aber mindestens 1500 Emigranten gelang die Flucht mit dem Not-Rettungskomitee Varian Frys - unter ihnen offenbar auch Hermann Budzislawski, Chefredakteur der zuletzt in Paris herausgegebenen »Neuen Weltbühne«, die auch Benjamin eine Tribüne geboten hatte. Budzislawski war, so erzählte er mir einmal, mit Vater, Frau und Tochter, in der Hand nur einen Beutel mit dem Allernotwendigsten, im Oktober 1940 über die Pyrenäen geklettert. Gemeinsam mit Heinrich Mann und vielen anderen legte er mit dem griechischen Dampfer »New Hellas« von Lissabon nach New York ab - um viele Jahre später die in Berlin wiedererstandene »Weltbühne« zu leiten. Weit weniger rosig das Schicksal Frys, der, mit dem Stigma eines Helfers deutscher Linker behaftet, in seinem Beruf nie wieder Fuß fassen konnte und völlig vergessen starb.
Doch all die Retter und Geretteten jener Jahre können sich in der beziehungsreichen Installation über dem Hafenfelsen von Port Bou wiedererkennen, die als »Gedenkort Passagen in Erinnerung an Walter Benjamin und andere« firmiert. Vor den Toren des Friedhofs, auf dem Benjamin begraben wurde, führt ein rechteckiger Schacht aus dem gleichen braunen Canigou-Eisen wie das Fittko-Mal ein Stück den Felsen hinab - Assoziation: Fluchtweg. Nach 68 Stufen versperrt eine Glasplatte den Weg - wir starren in das Türkis des Meeres, die Freiheit greifbar nah, doch für Benjamin unerreichbar. Auch hier ist die Handschrift von Dani Karavan unübersehbar, der oberhalb des Friedhofs weitere Eiseninstallationen zu dem Flucht-Schacht in Beziehung setzte.
Port Bou hat Benjamin ein weiteres Denkmal gesetzt - eine ständige Ausstellung in der barocken ehemaligen Reithalle. Die Öffnungszeiten sind nicht sonderlich ausgedehnt, und so drücken wir uns die Nasen an den hohen Fenstern platt. Neun große Benjamin-Porträts, die meisten in der Rodinschen Denker-Position, zieren die Wände. Vitrinen geben Auskunft über Leben, Werk und Gedenkorte. Absichtsvoll wird ein Kanonenrohr mit einer Schreibmaschine konfrontiert. Doch auch hier sucht der Reisende vergeblich nach jener Tasche mit einem Buchmanuskript, die Benjamin auf der Flucht an sich klammerte; sie ist nirgends aufgetaucht - Teil des Mysteriums von Port Bou.
Die Gedenkorte von Banyuls und Port Bou können zumindest eines: Erinnerung wach halten. Und Roger Rull gibt uns diese Maxime mit auf den Weg: »Wenn ein Mensch se...

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