Wurzellos - was soll das sein?
Vor 20 Jahren starb ein Unvergessener des Deutschen Theaters: Dieter Franke
Eigentlich ist es müßig. Alle Mittel einer nachholenden Verdeutlichung müssen versagen. Wenn ein Schauspieler stirbt, ist er offenbar wirklich tot. Wie jemandem erklären, wer Dieter Franke war? Da ist kein Buch herüberzureichen: Da, lies. Da ist auf kein Bild zu zeigen: Da, sieh. Da ist kein Konzert zu besuchen: Da, hör. Dichter, Maler, Komponisten: Sie sterben, ohne gleich tot zu sein; ein Werk widersteht; zumindest ist dies eine Möglichkeit. Mit unserer Erinnerung an Schauspieler jedoch sind wir ganz allein - aber im Moment, da wir uns erinnern, öffnet sich doch wieder eine ganze Welt. Das ist der Widerspruch, mit dem die da oben uns quälen. An ihrem Biertisch. Franke, Ludwig, Piontek; Böwe kommt aus dem Prignitzer Himmel herüber. Da oben? Nein, wohl doch nicht. Auch Franke tendierte eher nach unten, da war die Kantine.
Franke, 1934 in Chemnitz geboren, starb vor zwanzig Jahren im Alter von 48 Jahren. Er nuschelte oder stürzte die Sätze heraus, manchmal schienen sich die Worte im Mund polternd zu überholen. Er hatte ein gewisses Phlegma. Er strahlte nichts Heldisches, Promenierendes aus. Der durchaus Füllige schien eher die Unauffälligkeit als die Auffälligkeit zu suchen. Er sah immer ein wenig aus, als habe er Angst vor den großen Dichtern. Das summierende Urteil all dessen klingt zunächst ein wenig merkwürdig: Franke war ein wunderbarer Schauspieler, ein Großer des Deutschen Theaters Berlin.
Natürlich schafft sich jede Generation - da mag der Zustand des Theaters sein, wie die Zeit will - neue große Schauspieler; und wenn das so genannte einfache Leben in diesem Franke seinen instinktkräftigen Sieg davontrug, so besteht ohnehin Hoffnung. Denn dieses Leben ist unbesiegbar und wird im übrigen ja nur »einfach« genannt, weil es verdammt kompliziert, also in höchstem Grade kunstwürdig ist.
Das Schöne, Schmerzliche besteht darin, dass man Franke sagt und zugleich andere denkt. Und unter einem bestimmten Aspekt wähnt man unter ihnen selbst diejenigen ein bisschen als vergangen, die doch leben! Grosse, Kahler, Esche, Dommisch, Hentsch, Grube-Deister, Baur, Bechmann, Lendrich, Bienert, Grashof, Körner, Düren, Holtz, Ritter, Keller, Macheiner, Mann, Solter, Lang, Schorn, Hiemer, Links, Bendokat ... so könnte es weiter- und weitergehen. Reihenfolge unwichtig. Franke erinnert an eine Zeit, da in der Schumannstraße 13 a Wurzellosigkeit ein unbekanntes und Schauspieler ein königliches Wort war. Ein Wort, das bedeutete: Menschen dürfen das sein, was sie aus sich machen können. Es bedeutete also: Zärtlichkeit und Stille und Unerbittlichkeit einer langmöglichen und lang gewollten Entfaltung. Die Zärtlichkeit kam vom Publikum, die Stille vom Zeitbesitz. Die Unerbittlichkeit aber kam von den Regisseuren, die damit auch nur ihre Zärtlichkeit ausdrückten. Langhoff, Heinz, Dresen, Besson. Damals lebte das Theater (gut!) davon, dass Wahrheit immer ein bisschen gefährlich war; heute stirbt es mehr als nur ein bisschen daran, dass die grenzenlosen Wahrheiten geradezu gemeingefährlich sind. Sie heben sich gegenseitig auf.
Damit ist sehr deutlich gesagt, dass Erinnerung an Dieter Franke eine trotzige Behauptung von Schönfärberei des momentan offenbar Erledigten bedeutet. Denn Franke, das ist Teil eines Empfindungszustandes von Theater, der nicht mehr gilt, der aber so verflucht beglückend war. Als sei mit den Stars des DDR-»Deutschen« damals die Erschaffung der Welt als Theater gelungen, und das Theater habe sogleich begonnen, nun seinerseits die Erschaffung der Welt zu proben. Keiner wollte damals freilich glauben, dass das im Großen wie im Kleinen eh nur katastrophal enden kann. Im Heute nämlich. Und zumindest also in der Verrottung vieler Spielpläne und in kurzfristigem Darstellertheater. In restaurativem Regie-Selbstdarstellungstheater sowieso.
Immer erst später weiß man, dass alles Beglückende bloß existiert, weil der Schein das Bewusstsein nicht minder bestimmt wie jenes Sein, das meist weniger Beglückendes parat hält. Mit anderen Worten: Auch das DT war selbst zu besten Ensemble-Zeiten keine Insel der Glückseligen, aber da sind wir wieder bei diesem Franke und nun wirklich in der Kantine. Als einem Un- und Hauptsinnstiftungsort des Komödiantentums, das Aufschwung und Verlorenheit des Schauspielerlebens auf so furchtbare wie freche Weise offenbart. Franke war ein Geselligkeitsmagnet; er war der Weichspieler und Weichspüler aller auch damals bestehenden Eitelkeitsfronten, und möglicherweise ist die so stabile Verehrung für diesen fröhlichen Kerl auch in einem stark arbeitenden schlechten Gewissen derer zu suchen, die oben auf der Bühne das hohe Lied der Nächstenliebe probten und unten in der Kantine nur den Witzbold und gefälligen Kumpel sahen, der bereitwillig fröhlich aufbrannte - und ansonsten vielleicht sehr allein war.
Unvergesslich: sein Charlesmagne im »Drachen«, der Kreon im »Ödipus« (beides bei Besson), Boyle in »Juno und der Pfau«, die O'Casey-Einakter, sein Mephisto (alle bei Dresen), sein Butler in Solters »Wallenstein«, sein Trutzwackerl im »Schwitzbad« (ebenfalls unter Solters Regie), der Trullesand, Dorfrichter Adam, der Kurfürst im »Prinzen von Homburg«, Grilo im »Testament des Hundes«; Filme wie »Kleiner Mann - was nun?«, »Der nackte Mann auf dem Sportplatz«, »Gevatter Tod«, »Dach überm Kopf«. Franke war in seinem Spiel verschmitzter Normalsinn und austarierende Bodenständigkeit, er gab das verschrobene Dickfell, von dem wärmende Bedächtigkeit und eine Naivität ausgingen, die auch gern das Schrullige herauskehrte. Noch. Ich denke, aus dem Lebensverschwender wäre sparsame Vollgrazie geworden. Schweres konzentriertes Dasein.
Er hat die Figur, die er spielen sollte, wahrscheinlich nie danach abgefragt, welche Intention er ihr unterlegen solle - er hat gespielt. Er hat nach Leben gesucht, nicht nach Konzepten gegriffen. Er ist nie auf Rollen niedergestürzt, um sie zu fangen, er ist ihnen entgegengetreten als Unschuldiger. Charaktere waren bei ihm Menschen, die aus ihrer Freiheit in die Falle einer Entscheidung geraten waren. Deshalb sah man Franke schwitzen. Er hat vor vielen Sprungreifen gestanden, die er für seinen Auffassungswillen und seine Körperlichkeit vielleicht als zu hochhängend empfand. Man hat ihm angesehen, dass er wusste: Das Theater gibt mir nichts, was ich mir nicht selber gebe. Und also sprang er. Und schwitzte wieder. Und zwischen den Schweißtropfen stand auf diesem sehr offenen Gesicht etwas vom Kinderglauben ans Glück geschrieben: Man kann sein, was man nicht ist, und ich zeige euch, wie's geht.
Ich sag ja: ein wunderbarer Schauspieler. An den man, so sein Freund Kurt Böwe, erinnern m...
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