»Berlin liegt in den Sandwüsten Arabiens«

Nach 15 Jahren ist die dritte Auflage der »Geschichte Berlins« erschienen

  • Andreas Heinz
  • Lesedauer: 3 Min.
Frau Weiß und Herr Schwarz strahlten. Die beiden Vertreter des Berliner Wissenschafts-Verlages hatten Prof. Ribbe zu Gast, der zwei dicke Bücher mitgebracht hatte. Der Historiker präsentierte in der Akademischen Buchhandlung am Gendarmenmarkt sein neuestes Werk, die aktualisierte Neuauflage der »Geschichte Berlins« von der Frühgeschichte bis zur Gegenwart in zwei Bänden. Auf insgesamt 1375 Seiten dokumentieren Historiker wie Eberhard Bohm, Winfried Schich oder Ilja Mieck im ersten Band Berlin von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung. Band zwei führt von der Märzrevolution bis zur Gegenwart. Aktuellster Hinweis, so erzählte Wolfgang Ribbe, sei der Rücktritt von Gregor Gysi als Wirtschaftssenator. Ribbe, Vorsitzender der Historischen Kommission, fungierte als Herausgeber. Der Historiker habe, so berichtete Verlagssprecher Schwarz, nach 15 Jahren die dritte Auflage der »Geschichte Berlins« fertig gestellt. Das Werk enthalte nun auch die Entwicklung der Stadt nach der Wende. Ribbe pickte einige Details aus der jüngeren Zeit heraus: Im Haus Schlüterstraße35 in Charlottenburg hatte während des Dritten Reiches die Reichskulturkammer ihren Sitz. Unmittelbar nach Kriegsende begannen sich die Künstler wieder zu organisieren. Sie fanden sich in den Räumen der Reichskulturkammer ein. Die hatte den Krieg - einschließlich Inventar und Mitgliederkartei - unversehrt überstanden, und man gründete die »Kammer der Kunstschaffenden«. Wichtigste Aufgabe der Kammer war, Lebensmittelkarten zu verteilen und die Entnazifizierung zu unterstützen. Die Villa, die der US-Stadtkommandant in Dahlem bezog, war zuvor Dienstsitz von Johannes R. Becher, dem ersten Präsidenten des Kulturbundes. Der Architekt Hans Scharoun plante, so ist im zweiten Band nachzulesen, aus Berlin ein Brasilia zu machen. Scharoun, 1945 und 1946 Stadtrat und Leiter der Abteilung Bau- und Wohnungswesen des Magistrats, wollte - so Ribbe weiter - dass die Mietskasernenstadt einer an den Konturen des Urstromtales angelegten, durchgrünten und mit Schnellstraßen durchzogenen Bandstadt aus überschaubaren Nachbarschaften weichen müsse. »Scharoun wollte Bänder des Wohnens und des Arbeitens schaffen für ein Leben in Licht, Luft und Sonne. Bis auf kümmerliche Reste wäre danach das historische Berlin verschwunden. Doch die westlichen Alliierten legten ein Veto ein.« Um die Wurzeln Berlins kümmerte sich Winfried Schich, der gleich klarstellte, dass der Name nichts mit dem Bären zu tun habe. Schmunzelnd erklärte Schich: »Berlin ist ein alter slawischer Flurname und bedeutet nun mal Schmutzloch, schmutziger Pfuhl, schmutziger Tümpel.« Die Wurzeln seien im letzten Viertel des 12.Jahrhundert zu suchen. Alle Berlins - es gibt beispielsweise auch eines bei Ratzeburg in Schleswig-Holstein und in der Niederlausitz - seien slawischen Ursprungs. Dagegen stammten die Flussnamen Spree und Havel aus dem Germanischen. Sprung ins Jahr 1808: Der Schriftsteller Stendhal fand, dass der Sand die ganze Umgebung zur Wüste mache - »wie konnte bloß jemand auf die Idee kommen, mitten in all dem Sand eine Stadt zu gründen?« Von den sternförmig auf Berlin zulaufenden Landstraßen waren bis 1800 nur die aus Potsdam und Charlottenburg kommenden Chausseen ausgebaut. Alle übrigen Straßen, die »Des Heiligen Römischen Reiches Streusandbüchse« durchquerten, waren unbefestigte Sandpisten ohne jeden Unterbau, die »im Sommer wegen des tiefen Sandes, im Herbst und Winter wegen des tiefen Schlammes oft grundlos« erschienen. »Berlin«, so notierte ein kritischer Beobachter, »liegt ... in den Sandwüsten Arabiens.«
»Geschichte Berlins«, zwei Bände, herausgegeben von Wolfgang Ribbe, Berliner Wissenschafts-Verlag, 89 Euro, ND-Bücherservice-Tel.: (030) 29 39 07 66

Andere Zeitungen gehören Millionären. Wir gehören Menschen wie Ihnen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Dank der Unterstützung unserer Community können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen ins Licht rücken, die sonst im Schatten bleiben
→ Stimmen Raum geben, die oft zum Schweigen gebracht werden
→ Desinformation mit Fakten begegnen
→ linke Perspektiven stärken und vertiefen

Mit »Freiwillig zahlen« tragen Sie solidarisch zur Finanzierung unserer Zeitung bei. Damit nd.bleibt.