Russlands entsetzliche Hypothek

Prof. Wolfgang Leonhard über das Moskauer Geiseldrama und den Krieg in Tschetschenien

Prof. Wolfgang Leonhard, geboren 1921 in Wien, verbrachte seine Jugendjahre (1935 - 1945) in der Sowjetunion und kann nach eigenem Bekunden »von dem, was aus der Sowjetunion geworden ist, nicht lassen«. Der Historiker, Ost- und Russlandexperte, lebt heute in Manderscheid in der Eifel.

ND: Präsident Putin hat in seinen Reden nach der Aktion zur Befreiung der Geiseln in Moskau das Wort Tschetschenien nicht ein einziges Mal in den Mund genommen. Warum, glauben Sie, besteht er ausschließlich auf dem »internationalen Terrorismus« als Urheber und Schuldiger der Geiselnahme?
Leonhard: Seit den entsetzlichen Attacken der Terroristen gegen die USA am 11. September 2001 bezeichnet Putin alle russischen militärischen Aktionen und Unterdrückungsmaßnahmen in Tschetschenien als Teil des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus. Damit will er den russischen Krieg in Tschetschenien rechtfertigen. Aber diese Behauptung steht auf schwachen Füßen. Gewiss - das wird niemand bestreiten - gibt es in Tschetschenien islamische Terroristen, vielleicht auch ein oder zwei Ausbildungszentren. Aber es ist grotesk und ungerecht, dies einer ganzen Bevölkerung anzulasten. Übrigens: Auf allen bisherigen Listen der gesuchten mutmaßlichen internationalen Terroristen mit Verbindungen zu Al Qaida findet sich kein einziger Tschetschene.

Wie bewerten Sie die von Putin eingeleiteten verschärften Aktionen nach der Beendigung des Geiseldramas?
Selbstverständlich würde ich alle Maßnahmen der russischen Regierung, die sich eindeutig gegen Terroristen richten, unterstützen und als gerechtfertigt ansehen. Aber leider ist das bei den eingeleiteten Aktionen keineswegs immer der Fall. Nach der Beendigung des Geiseldramas - fast eine Woche nach diesem entsetzlichen Vorgang - ist das Parlament, die Staatsduma, noch nicht einmal zusammengetreten, um über die Geiselnahme und den Tschetschenien-Krieg zu debattieren und vielleicht Entscheidungen im Sinne einer friedlichen Lösung zu treffen. Stattdessen werden die militärischen Aktionen Russlands in Tschetschenien verschärft - Aktionen, die in erster Linie die Zivilbevölkerung treffen. In ganz Russland finden Razzien gegen Tschetschenen und Angehörige anderer kaukasischer Völker statt. Die Bevölkerung wird über wichtige Vorgänge bei der Geiselbefreiung und den Aufenthalt der befreiten Geiseln in Moskauer Krankenhäusern nicht informiert. Die Zensur in den Medien, vor allem im Fernsehen, ist drastisch verschärft worden. All dies macht viele Menschen in Russland - und außerhalb Russlands - besorgt.

Ist nach den jüngsten Ereignissen die Beendigung des russisch-tschetschenischen Krieges nicht zumindest in sehr weite Ferne gerückt?
Kurzfristig gesehen haben sich die Lösungsmöglichkeiten leider beträchtlich verringert. Aber ich würde keineswegs behaupten wollen, eine Lösung sei nun völlig ausgeschlossen. Schon seit Monaten gibt es ein Patt zwischen den russischen Truppen und den Tschetschenen. Die russischen Truppen haben zwar eine gewaltige Übermacht, konnten und können aber den tschetschenischen Widerstand nicht unterdrücken. Die Tschetschenen setzen ihren Widerstand fort, verstärken ihn teilweise sogar, sind aber nicht in der Lage, die russischen Truppen aus dem Lande zu vertreiben. In einer solchen Patt-Situation könnte es durchaus möglich sein, dass gemäßigte Kräfte auf beiden Seiten sich zu Verhandlungen entschließen.
Präsident Putin ist sich sicher bewusst, dass der Tschetschenien-Krieg eine entsetzliche Hypothek für Russland und die russische Führung ist. Er weiß, dass die russische Bevölkerung heute gegenüber dem Tschetschenien-Krieg bedeutend skeptischer ist als noch vor drei Jahren. Die Unterstützung des Krieges in Tschetschenien ist bei der russischen Bevölkerung von über 70 Prozent auf etwa 40 Prozent zurückgegangen, die Bereitschaft zu Friedensverhandlungen von 22 Prozent auf fast 60 Prozent gestiegen. Auch liegt Putin daran, seine internationale Reputation nicht zu gefährden, und er wird wohl in Rechnung stellen, dass in westlichen Ländern die Kritik an den militärischen Aktionen wächst und immer deutlicher der Wunsch nach einem Waffenstillstand und einer friedlichen politischen Lösung des Konflikts geäußert wird.

Sie sprachen von gemäßigten tschetschenischen Kräften. Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang das Verhandlungsangebot des tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow?
Ich sehe darin ein Zeichen, dass es in Tschetschenien - genau wie in Russland! - gemäßigte Kräfte gibt, die Verhandlungen wünschen. Abzuwarten bleibt jedoch, inwieweit Präsident Asan Maschadow die Möglichkeit hat, solche Verhandlungen ungehindert zu führen und eventuelle Vereinbarungen in Tschetschenien durchzusetzen.

Die Geiselnehmer hatten den Rückzug der russischen Truppen verlangt. Wäre ein solcher Rückzug aus Ihrer Sicht eine Garantie für Frieden und das Ende des Terrors? Würde nicht vielmehr wieder das Chaos der ersten faktischen Unabhängigkeit Tschetscheniens in den Jahren 1996 bis 1999 einziehen, das auch Maschadow nicht verhindern konnte?
Selbst ein - gegenwärtig noch in Ferne liegender - Rückzug der russischen Truppen aus Tschetschenien wäre sicher keine automatische Garantie für den Frieden und das Ende des Terrors in der Region. Dazu sind das Hasspotenzial auf beiden Seiten und der Mangel an staatlichen Strukturen in Tschetschenien noch zu deutlich. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass das Chaos der Jahre 1996 bis 1999 sich nicht in diesem Ausmaß wiederholen wird. Die Erfahrungen der letzten drei Kriegsjahre dürften sowohl an den russischen Truppen als auch bei den Tschetschenen nicht spurlos vorübergegangen sein.

Sind die Konfliktparteien allein überhaupt in der Lage, zu einer Friedensvereinbarung zu gelangen? Und wenn nicht: Wie ließe sich Putin zur Akzeptanz internationaler Vermittlung bewegen?
Der entscheidende Anstoß sollte durch die gemäßigten, realistischen Kräfte in Russland und in Tschetschenien selbst erfolgen. Anregungen und Vorschläge von westlicher Seite würde ich durchaus befürworten, aber vor Versuchen einer zu schnellen Einflussnahme oder gar irgendwelchen Forderungen würde ich dringend warnen. Das kann nur zum Gegenteil, zu einer harten Ablehnung, führen. Erst im Zuge längerer Kontakte und Gespräche könnten solche Gedanken wie die von Ruslan Chasbulatow, der die Bildung einer internationalen Schutzzone vorgeschlagen hat, behandelt werden.

Werden die jüngste Geiselnahme und ihr Ausgang die russische Haltung zu einem Krieg gegen Irak beeinflussen?
Nein. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird die russische Staatsführung bei ihrer Ablehnung eines Krieges der USA gegen Irak bleiben. Wie die meisten europäischen Länder befürwortet Russland die Entsendung von UN-Inspektoren nach Irak, die die Möglichkeit haben müssen, alle Rüstungs- und Waffenarsenale ungehindert zu beobachten und zu durchsuchen. Ein Krieg aber wird nach wie vor von der russischen Staatsführung abgelehnt.

Fragen: Detlef D. PriesND: Präsident Putin hat in seinen Reden nach der Aktion zur Befreiung der Geiseln in Moskau das Wort Tschetschenien nicht ein einziges Mal in den Mund genommen. Warum, glauben Sie, besteht er ausschließlich auf dem »internationalen Terrorismus« als Urheber und Schuldiger der Geiselnahme?
Leonhard: Seit den entsetzlichen Attacken der Terroristen gegen die USA am 11. September 2001 bezeichnet Putin alle russischen militärischen Aktionen und Unterdrückungsmaßnahmen in Tschetschenien als Teil des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus. Damit will er den russischen Krieg in Tschetschenien rechtfertigen. Aber diese Behauptung steht auf schwachen Füßen. Gewiss - das wird niemand bestreiten - gibt es in Tschetschenien islamische Terroristen, vielleicht auch ein oder zwei Ausbildungszentren. Aber es ist grotesk und ungerecht, dies einer ganzen Bevölkerung anzulasten. Übrigens: Auf allen bisherigen Listen der gesuchten mutmaßlichen internationalen Terroristen mit Verbindungen zu Al Qaida findet sich kein einziger Tschetschene.

Wie bewerten Sie die von Putin eingeleiteten verschärften Aktionen nach der Beendigung des Geiseldramas?
Selbstverständlich würde ich alle Maßnahmen der russischen Regierung, die sich eindeutig gegen Terroristen richten, unterstützen und als gerechtfertigt ansehen. Aber leider ist das bei den eingeleiteten Aktionen keineswegs immer der Fall. Nach der Beendigung des Geiseldramas - fast eine Woche nach diesem entsetzlichen Vorgang - ist das Parlament, die Staatsduma, noch nicht einmal zusammengetreten, um über die Geiselnahme und den Tschetschenien-Krieg zu debattieren und vielleicht Entscheidungen im Sinne einer friedlichen Lösung zu treffen. Stattdessen werden die militärischen Aktionen Russlands in Tschetschenien verschärft - Aktionen, die in erster Linie die Zivilbevölkerung treffen. In ganz Russland finden Razzien gegen Tschetschenen und Angehörige anderer kaukasischer Völker statt. Die Bevölkerung wird über wichtige Vorgänge bei der Geiselbefreiung und den Aufenthalt der befreiten Geiseln in Moskauer Krankenhäusern nicht informiert. Die Zensur in den Medien, vor allem im Fernsehen, ist drastisch verschärft worden. All dies macht viele Menschen in Russland - und außerhalb Russlands - besorgt.

Ist nach den jüngsten Ereignissen die Beendigung des russisch-tschetschenischen Krieges nicht zumindest in sehr weite Ferne gerückt?
Kurzfristig gesehen haben sich die Lösungsmöglichkeiten leider beträchtlich verringert. Aber ich würde keineswegs behaupten wollen, eine Lösung sei nun völlig ausgeschlossen. Schon seit Monaten gibt es ein Patt zwischen den russischen Truppen und den Tschetschenen. Die russischen Truppen haben zwar eine gewaltige Übermacht, konnten und können aber den tschetschenischen Widerstand nicht unterdrücken. Die Tschetschenen setzen ihren Widerstand fort, verstärken ihn teilweise sogar, sind aber nicht in der Lage, die russischen Truppen aus dem Lande zu vertreiben. In einer solchen Patt-Situation könnte es durchaus möglich sein, dass gemäßigte Kräfte auf beiden Seiten sich zu Verhandlungen entschließen.
Präsident Putin ist sich sicher bewusst, dass der Tschetschenien-Krieg eine entsetzliche Hypothek für Russland und die russische Führung ist. Er weiß, dass die russische Bevölkerung heute gegenüber dem Tschetschenien-Krieg bedeutend skeptischer ist als noch vor drei Jahren. Die Unterstützung des Krieges in Tschetschenien ist bei der russischen Bevölkerung von über 70 Prozent auf etwa 40 Prozent zurückgegangen, die Bereitschaft zu Friedensverhandlungen von 22 Prozent auf fast 60 Prozent gestiegen. Auch liegt Putin daran, seine internationale Reputation nicht zu gefährden, und er wird wohl in Rechnung stellen, dass in westlichen Ländern die Kritik an den militärischen Aktionen wächst und immer deutlicher der Wunsch nach einem Waffenstillstand und einer friedlichen politischen Lösung des Konflikts geäußert wird.

Sie sprachen von gemäßigten tschetschenischen Kräften. Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang das Verhandlungsangebot des tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow?
Ich sehe darin ein Zeichen, dass es in Tschetschenien - genau wie in Russland! - gemäßigte Kräfte gibt, die Verhandlungen wünschen. Abzuwarten bleibt jedoch, inwieweit Präsident Asan Maschadow die Möglichkeit hat, solche Verhandlungen ungehindert zu führen und eventuelle Vereinbarungen in Tschetschenien durchzusetzen.

Die Geiselnehmer hatten den Rückzug der russischen Truppen verlangt. Wäre ein solcher Rückzug aus Ihrer Sicht eine Garantie für Frieden und das Ende des Terrors? Würde nicht vielmehr wieder das Chaos der ersten faktischen Unabhängigkeit Tschetscheniens in den Jahren 1996 bis 1999 einziehen, das auch Maschadow nicht verhindern konnte?
Selbst ein - gegenwärtig noch in Ferne liegender - Rückzug der russischen Truppen aus Tschetschenien wäre sicher keine automatische Garantie für den Frieden und das Ende des Terrors in der Region. Dazu sind das Hasspotenzial auf beiden Seiten und der Mangel an staatlichen Strukturen in Tschetschenien noch zu deutlich. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass das Chaos der Jahre 1996 bis 1999 sich nicht in diesem Ausmaß wiederholen wird. Die Erfahrungen der letzten drei Kriegsjahre dürften sowohl an den russischen Truppen als auch bei den Tschetschenen nicht spurlos vorübergegangen sein.

Sind die Konfliktparteien allein überhaupt in der Lage, zu einer Friedensvereinbarung zu gelangen? Und wenn nicht: Wie ließe sich Putin zur Akzeptanz internationaler Vermittlung bewegen?
Der entscheidende Anstoß sollte durch die gemäßigten, realistischen Kräfte in Russland und in Tschetschenien selbst erfolgen. Anregungen und Vorschläge von westlicher Seite würde ich durchaus befürworten, aber vor Versuchen einer zu schnellen Einflussnahme oder gar irgendwelchen Forderungen würde ich dringend warnen. Das kann nur zum Gegenteil, zu einer harten Ablehnung, führen. Erst im Zuge längerer Kontakte und Gespräche könnten solche Gedanken wie die von Ruslan Chasbulatow, der die Bildung einer internationalen Schutzzone vorgeschlagen hat, behandelt werden.

Werden die jüngste Geiselnahme und ihr Ausgang die russische Haltung zu einem Krieg gegen Irak beeinflussen?
Nein. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wird die russische Staatsführung bei ihrer Ablehnung eines Krieges der USA gegen Irak bleiben. Wie die meisten europäischen Länder befürwortet Russland die Entsendung von UN-Inspektoren nach Irak, die die Möglichkeit haben müssen, alle Rüstungs- und Waffenarsenale ungehindert zu beobachten und zu durchsuchen. Ein Krieg aber wird nach wie vor von der russischen Staatsführung abgelehnt.

Fragen: Detlef D. Pries

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