Die Kinder der Bounty

  • Karin Schmidt-Feister
  • Lesedauer: ca. 9.5 Min.

Höchstens zehn Jahre lang dürfen die kleinen Stars des Berliner Friedrichstadtpalastes zum Ensemble gehören. Die dann ausscheiden müssen, sind traurig

Sie kommen aus Schöneberg und Friedrichsfelde, Tempelhof und Friedrichshain, Mahlsdorf, Tegel, Köpenick, Weißensee, aus Friedenau und Wildau, Marzahn, Birkenwerder, Ziegenhals, Zehlendorf, Potsdam und aus Mitte - die rund 300 Tänzer und Sprecher vom Kinderensemble an Europas größtem Revuetheater. »Von 400 Bewerbern schaffen es jährlich 50 in die engere Auswahl. Während der dreimonatigen Probezeit fiebern die Kinder der Aufnahme ins Ensemble entgegen. Wenn dann die Zusage kommt, ist der Jubel groß, doch wer eine Absage erhält, fällt oft in ein tiefes Loch«, weiß Christina Tarelkin. Sie fügt hinzu: »Wir sind zwar ein Leistungsensemble, aber wir sind menschlich, eine Art Großfamilie. Je länger das Familienmitglied dazugehört, umso schwerer fällt es oft, kritisch zu sein. Nicht jedes Kind hat das Zeug zu einer Tänzerin oder einem Tänzer, und doch haben alle unsere Kinder schöpferischen Ausdruckswillen, den wir wecken, fördern und mit den jährlichen Revuen auch öffentlich machen. Für die Aufnahme ins Ensemble zählt nicht der Geldbeutel der Eltern, sondern einzig körperliche Eignung und Begabung.« Christina Tarelkin hat selbst zehn Jahre im Jugendensemble getanzt und dann an der Theaterhochschule in Leipzig Choreografie und Tanzpädagogik studiert. 1988 ist sie an den neuen Friedrichstadtpalast zurückgekehrt, und 1992 entstand ihre erste Tanzschöpfung für das Kinderensemble. In der Nachfolge von Hannelore Arenkens ist sie seit 2000 künstlerische Leiterin des Kinderensembles. Derzeit gibt es sieben Ballett- und drei Sprecherklassen, in denen die Kinder eine kostenlose Grundausbildung in Tanz oder Schauspiel erhalten. Jedes Jahr werden 50 Erstklässler aufgenommen; um die Mitgliederzahl konstant zu halten, müssen im Gegenzug 50 16- bis 17-Jährige aus dem Ensemble ausscheiden. Einige Jugendliche finden im Friedrichstadt-Dancer e.V. eine neue Freizeit-Tanzheimstatt. Doch keine und keiner, der je mitgetanzt und mitgespielt hat, vergisst diese Zeit intensiven künstlerischen und menschlichen Miteinanders. Es ist dieses einmalige wärmende Ensemblegefühl, dass im Miteinander ganz unterschiedlicher junger Leute deren Individualität ausprägen hilft, die Fähigkeit zu sehen und zu hören spielerisch schult, und diesen Prozess mit Leistungbereitschaft und Verantwortungsgefühl verbindet. Die Sprecherkinder nennen die Tänzerkinder »Ballettis«. Der letzte Montag im Januar ist der Tag der jährlichen Neuaufnahmen für das Kinderballett. Voraussetzung ist, dass die Sechs- bis Siebenjährigen bereits die Schule besuchen, über gute körperliche Voraussetzungen verfügen und ihr Spaß an der Bewegung auf rhythmischem und musikalischem Empfinden beruht. Die Tanzpädagoginnen der Kinderrevue suchen im Verlauf des einstündigen Eignungstestes aus mehreren 100 Kindern eine Gruppe von circa 30 Kindern aus. Die jüngste Gruppe, die so genannten Brombeerkinder (wegen der Farbe ihrer ersten Trikots), wurde im Januar 2002 getestet und angenommen. Seither bekommen diese Kinder zwei Mal wöchentlich eine Stunde Ballettunterricht. Ihr Bühnendebüt ist traditionell ein Tanz in der Weihnachtsrevue, und so entscheiden die Tanzpädagoginnen und pädagogischen Betreuerinnen gemeinsam mit den Eltern gleich nach der Sommerpause über die Teilnahme ihrer Sprösslinge. Eine Zusage bedeutet für viele Eltern auch ein logistisches Kunststück, denn Kinder in diesem Alter brauchen immer eine Begleitung zu und von den Proben. Acht Weihnachtsrevue-Auftritte je Besetzung (bis 20.45 Uhr) bedeuten zusätzliche, nicht nur zeitliche Belastungen. Fahrgemeinschaften bilden sich, Dienste werden getauscht, der Probenplan bestimmt den familiären Ablauf. Kinder gewöhnen sich erstaunlich schnell an neue Tagesabläufe, und die Kleinsten sind ganz erfüllt von dem Gedanken, möglichst bald auf der großen Bühne im Kostüm zu tanzen. Doch bis dahin vergehen Monate exakter Probenarbeit. Alle Kinder, so die gesetzlichen Vorschriften, dürfen nur acht Mal im Monat auf der Bühne stehen. Entsprechend wird unter erheblichem Probenaufwand jede Rolle und jeder Tanz doppelt besetzt, was auch unter psychologischen Aspekten einen Vorteil hat: Wenn es keine unersetzlichen »Stars« gibt, werden Neid und Konkurrenzdruck gemildert. Auch bei den Neuen hat Christina Tarelkin im September zwei Besetzungen festgelegt. In der Probebühne Schollstraße hören Annika, Aaron, Fabian, Tori und ihre neuen Freunde von Kindern in einem Weihnachts-Warenhaus, die tanzend und singend ihr neues Spielzeug, eine bunte Eisenbahn, in Besitz nehmen. Sie werden diese Kinder sein; ihr Auftrittslied »Eine Muh, eine Mäh, eine Tätärätätä« kennen alle schon. Dann geht's los - sie stehen in zwei Reihen und üben die Schrittfolge, die Frau Tarelkin mehrmals vormacht: Füße rechts, links, rüber, ran, Arme eingestützt, dann kommen flötende Hände dazu. Die Körper werden lockerer, trotz der Konzentration lachen die Gesichter, und wenn die Kinder mitsingen, gelingt allen die Koordination der Bewegungen viel besser - sie beginnen zu tanzen. Alle Kinder, selbst Teil des Theaterzaubers, riechen die Theaterluft bei jeder Probe. Selbstbewusst zeigen sie den Pförtnerinnen ihre roten Betriebsausweise, sie gehören dazu! Sie beobachten die Techniker, Inspizientinnen, kennen ihre Garderobieren und Maskenbildnerinnen, bewundern ihre Stars vom Friedrichstadtpalast-Ballett; und sie sind stolz auf ein Autogramm von BroSis, das sie zur Henne-Gala 2002 ergattern konnten. Auf der Hauptbühne probt Regisseurin Isolde Matthesius mit den Sprechern der spielfreudigen Schulklasse die »Sturmszene«. »Versucht mal, laut und ganz deutlich zu sprechen, stellt euch ganz der Aktion, ich möchte kein privates Lachen hören.« Mehrfach lässt sie die Szene hintereinander spielen. Sie möchte eine lebendige theatrale Aktion und ermuntert ihre Schaupieler wieder und wieder: »Schreit so, als ob Sturm wäre, spielt die Szene miteinander, denn nur daraus erwächst die ungeheure Spannung.« Die junge Crew nimmt jede Kritik begierig auf. »Da braut sich was zusammen«, ruft Käptn Freddy und weist seine Mannschaft an, die Leinen zu sichern. Sturm tobt, Regen prasselt, Nelly Cocopelly, die wundersame Papageiendame, wankt an der Strickleiter aus dem Mastkorb, der blaue Kristall geht über Bord, doch Willy springt ihm nach in die tosende Haifisch-See - eine gigantische Gewitterlasershow tobt rings um die »Bounty«. Kristin hat in dieser Szene nichts zu tun, sie ist Anny, das Blumenmädchen. Erst seit einem Jahr im Ensemble, freut sich die Neueinsteigerin über ihre erste große Rolle. Kristin spielt gern, Angst vor der großen Bühne hat sie nicht. Vielleicht wird sie später mal Journalistin. Noch zwei Jungs aus ihrer Klasse sind dabei, aber als Tänzer - Benjamin und Niki. Bei Gina von den Sprechern dagegen schwingt schon etwas Wehmut mit. Sie spielt die Taschendiebin Charly, die mit der Schulklasse auf der Bounty über die Meere segelt. »Du kannst höchstens zehn Jahre im Ensemble sein. Ich werde heulen, wenn ich gehen muss und nicht wissen, was ich mit meiner Zeit anfangen soll.« Niki strahlt: »Ich hab noch vier Jahre, das ist meine vierte Revue. Ich bin Zimmermann, Krieger, aber wenn ich mit den anderen als Ungeheuer durch die Reihen der johlenden Zuschauer jage, ist dies das Größte.« Für die Sprecher- und Schauspielkinder findet das Casting jeweils am letzten Mittwoch im Mai statt. Spielfreudige Kinder im Alter von neun bis dreizehn Jahren, die eine wache Ausstrahlung, eine klare Stimme mit guter Artikulation sowie musikalisches Empfinden besitzen, haben gute Voraussetzungen. »Zur Ausbildung gehören Schauspiel und Improvisation, Bewegung, Gesang und Sprecherziehung«, erzählt Petra Grube. »Das alles soll sie befähigen, ab dem zweiten Ausbildungsjahr auf der Bühne mitzuwirken. Nach jeder Produktion werden die Sprecherkinder neu gemischt. Entsprechend ihres Alters, ihres Talents und der inszenatorischen Anforderungen arbeiten sie in drei Gruppen und müssen ebenso wie die Ballettis mit 17 das Ensemble verlassen.« Wieder herrscht Riesenjubel bei den neuen Sprecherkindern; Egbert aus Kladow, dessen zwei Geschwister bereits zum Sprecherensemble gehören und vielleicht das Zeug zum richtigen Schauspieler haben, freut sich darüber am letzten Tag vor den Herbstferien besonders. Nach den Ferien geht's los mit Sprecherziehung, spielerischer Improvisation und szenischem Spiel, und natürlich wird er sich wie die anderen im Bewegungstraining um die rhythmische Koordination von Armen und Beinen mühen, wird marschieren, hüpfen, ein Gefühl für den Körper entwickeln, auch wenn dies jungen Sprechern weitaus schwerer fällt als jungen Tänzern. Petra Grube, ausgebildete Deutschlehrerin mit Zusatzstudium Schauspielpädagogik, arbeitet seit zwanzig Jahren im Friedrichstadtpalast und hat somit mehrere Generationen von Kinderdarstellern betreut. Die tägliche Nähe zu den Jugendlichen hilft ihr auch beim authentischen Schreiben; das Buch für die nächste Revue »Lieblingsfarbe - Bunt« stammt aus ihrer Feder. Petra Grube, der auch der Improvisationsunterricht obliegt, hat große Hochachtung vor dem kindlichen Elan. »Die Kinder kommen zwei bis drei Mal wöchentlich zu Proben, oftmals nicht von zu Hause, sondern mit der Schulmappe, ein kleines Taschengeld für die Kantine in der Hosentasche und noch zu erledigende Hausaufgaben im Rucksack. Was in S-Bahn und Garderobe nicht geschafft wird, bleibt für abends. Stellproben im Ballettsaal, Leseproben, Anproben Bühnenproben - alles wie bei den Profis, nur auf vier intensive Nachmittagsstunden komprimiert. Vielleicht muß man manchmal meckern, vielleicht muss man einiges hundert Mal sagen, vielleicht muss man sie zur Ruhe mahnen, aber wir finden, man muss auch mal den Hut ziehen vor dem, was sie leisten. Maria aus der Gruppe 2000 hätte nie gedacht, dass sie auch auf der Bühne in einer speziellen Kinderrevue vor so vielen Zuschauern tanzen wird. »Ich dachte, wir haben hier nur Ballettunterricht. Bei meiner ersten Vorstellung vor einem Jahr hatte ich solches Herzflackern als kleiner Stern!« Dieses Jahr tanzt sie wie ihre Freundin Vivien ein Neutrino mit großen Würfeln an Händen, Kopf und Füßen, das ist schwierig, und man darf nicht stolpern. Suzann Bolick, ehemalige Tänzerin im Friedrichstadtpalastballett mit Zusatzstudium Bewegungspädagogik für darstellende Kunst, arbeitet seit drei Jahren als Ballettpädagogin und Choreografin für das Kinderensemble. Souverän und immer mit den richtigen Worten weiß sie, selbst hundert verschiedene Temperamente auf ein Probenziel zu konzentrieren. Wie schwer ist es oft, Reihen und Abstände zu halten, die vielen Requisiten zu handhaben, auf den Vordermann zu achten und die Musik nicht zu missachten. Manche zählen verbissen den Takt, andere tanzen gelöst. »Was heißt relevé auf deutsch«, will Suzann Bolick wissen. »Erheben«, so die Antwort. »Also bitte, meine Damen!« - und die Zehnjährigen fühlen sich ernst genommen. Später, im Tanz der Sterne, werden alle Mädchen auf den Fußspitzen trippeln und drehen. Eine Stunde klassisches Training erfordert eine hohe Konzentration, das ist nicht jedermanns Sache, und Roman denkt eigentlich mehr an seinen Auftritt als Neutrino im Gefolge des bösen Killerkometen Codo. Wenn er mit den anderen aus der Versenkung auftaucht, da wird er zeigen, was er kann. Die beiden Tanzpädagoginnen unterrichten rhythmische Improvisation, Grundlagen des klassischen Balletts und ab dem vierten Ausbildungsjahr auch Jazz-Dance. Sie vermitteln den Kindern der unterschiedlichen Alters- und Ausbildungsstufen damit genau die Bewegungsgrundlagen, die in den vielen Tänzen verlangt werden. Die zweite Woche der Herbstferien gehört den Stückproben mit Kostüm und Maske für beide Besetzungen, da kommen die jungen Akteure vier Mal in den Palast. Der Endproben-Stress hat alle im Griff. Bärbel Heidel, selbst langjährige Tänzerin an der Komischen Oper Berlin, am Friedrichstadtpalast und beim Fernsehballett, wirkt seit 1995 als pädagogisch-organisatorische Betreuerin. Was sie nicht in ihrer braunen Mappe oder im Computer hat, hat sie im Kopf. Sie merkt sich alles, schreibt Jahrespläne, Wochenpläne, Garderobenpläne, Besetzungen, notiert Krankheiten und Klassenfahrten, bespricht die Wünsche des Kinderensembles mit den Gewerken des Friedrichstadtpalastes. Auch sie spricht die Sprache der Kinder und hängt sehr an ihren Schützlingen. »Es ist schön, wie die Kleinsten von Revue zu Revue tanzen und sprechen und sich dabei vom Kind zum Jugendlichen mausern. Meine erste Gruppe gehört heute zu den Großen. Freude und Wehmut liegen oft beieinander.« Das engagierte Frauen-Quartett vom Kinderensemble öffnet Freiräume für Fantasie, sie zu betreten und auszugestalten macht hunderten Kindern und Jugendlichen Tag für Tag Vergnügen und Lust auf mehr. Im Theaterbereich der Bundesrepublik Deutschland stellt die traditionsreiche Kinderrevue des Berliner Friedrichstadtpalastes eine Einmaligkeit dar. Kinder spielen und tanzen für Kinder. Ab 3. November begeben sich 200 kleine Stars auf Europas größter Revuebühne in 28 Vorstellungen vor je 1890 Zuschauern erneut auf die abenteuerliche Suche nach dem blauen Kristall. ...

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