Am 6. November 1932 verlor die NSDAP bei den Reichstagswahlen zwei Millionen Stimmen und damit gegenüber den Juliwahlen 15Prozent ihrer Mandate. Mit 33,1 Prozent der Wählerstimmen und 196 Mandaten lag sie - anders als im Juli und auch bei den Preußenwahlen im April - hinter den beiden Arbeiterparteien mit zusammen 321 Mandaten (SPD 20,4 Prozent und 221 Mandate; KPD 16,9 Prozent und 100 Mandate). Die Aufregung unter den führenden Vertretern der deutschen Eliten war beträchtlich. Hatten sie diese ultrakonterrevolutionäre Partei doch seit Jahren gefördert, sorgsam in der politischen Reserve gehalten und schon länger mit ihrer Einbindung in die Regierungsverantwortlichkeit geliebäugelt. Kein Gedanke daran, dieses wertvolle politische Faustpfand jetzt aufzugeben.
Gerade das große Kapital hatte von dem politischen Gewurstel des schwachen Kanzlers Franz von Papen und von dem »Aussitzen« der nun schon drei Jahre währenden tiefen Wirtschaftskrise endgültig genug. Es gab nach seiner Überzeugung nur eine politische Kraft, die ihnen, auf eine Massenbasis gestützt, die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften vom Halse zu schaffen versprach. Sicher, manche der feinbetuchten Herren mochte es immer noch nicht riskieren, sich auf die unsicheren Kantonisten in der NS-Führung und ihre radikalisierten, zu jedem Verbrechen bereiten »Sturmabteilungen« zu stützen.
Aber die mehr oder weniger geschlossene Mehrheit der deutschen Großbourgeoisie war inzwischen eingeschwenkt auf eine Kanzlerschaft Hitlers. Das war es eben, was die geheime Eingabe an Reichspräsidenten Paul von Hindenburg diesem alten Herrn klarmachen sollte: Hitler als »der Führer der größten nationalen Gruppe« müsse Reichskanzler werden, um »die größtmögliche Volkskraft« hinter die Regierung zu bringen. Mit Hitler werde eine »verheißungsvolle« neue Zeit beginnen, »die durch Überwindung des Klassengegensatzes die unerlässliche Grundlage für einen Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft« schaffen werde. Sie ließen immerhin durchblicken, dass Hitlers Kabinett »mit den besten sachlichen und persönlichen Kräften« ausgestattet werden müsse, um die ihnen nicht unverdächtige »Massenbewegung« unter Kontrolle zu halten.
Offensichtlich unmittelbar nach der Reichstagswahl haben Hitlers Anhänger, voran der international bekannte Wirtschaftsfachmann und frühere Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, mit der Unterschriftensammlung begonnen, jedenfalls noch vor dem Rücktritt von Papens am 17. November. Am 19. November erreichte die Eingabe mit fast zwei Dutzend Unterschriften von Industriellen, Bankiers und Großgrundbesitzern das Büro Hindenburgs. Unterzeichner waren vor allen anderen Fritz Thyssen, Schacht, die Bankiers Kurt von Schröder und Friedrich Reinhart, der Kali-Monopolist August Rosterg sowie eine Gruppe von hanseatischen Großreedern und Großkaufleuten. Die Ruhr-Konzernbosse Albert Vögler (Vereinigte Stahlwerke), Paul Reusch (Gutehoffnungshütte) und Fritz Springorum (Hoesch) schoben ihr schriftliches Einverständnis am 21.November nach. Deutlich zu erkennen war, dass hier noch Namen fehlten, etwa solche aus der Deutschen Bank, von Siemens und den IG Farben (deren Chef Carl Bosch holte aber zur gleichen Zeit Hitlers Meinung zur staatlichen Förderung der synthetischen Benzinerzeugung im Fall seiner Kanzlerschaft ein). Auch Gustav Krupp, damals Vorsitzender des Reichsverbandes der deutschen Industrie, schien noch Vorsicht walten zu lassen.
Hindenburg zeigte sich von der Eingabe vorerst nicht so beeindruckt, dass er Hitler ohne Bedingungen zum Kanzler ernennen wollte. Doch muss ihm wie seinem Freunde von Papen klar geworden sein, dass die Eliten jetzt keine halben Lösungen mehr wollten und mehrheitlich auf den faschistischen Terror, auf die rücksichtslose Unterdrückung der Massenstreiks und auf die blutige Verfolgung der Kommunisten und Sozialdemokraten setzten. Ende November meldete ein eingeweihter Beobachter wie Franz Bracht, Oberbürgermeister von Essen, der Regierung, dass in Rheinland-Westfalen »fast die gesamte Industrie die Berufung Hitlers, gleichgültig unter welchen Umständen, wünscht« und dass es nach ihrer Meinung »der größte Fehler sei, wenn Hitler, auch unter Vorbringung ernsthafter Gründe, nicht mit der Regierungsbildung beauftragt würde«.
Von Papen schwenkte sehr bald nach seiner Absetzung auf den profaschistischen Kurs ein und verständigte sich am 4. Januar 1933 im Hause des Kölner Bankiers Kurt von Schröder heimlich mit Hitler. Sie erzielten, nach von Schröders Bericht, eine »prinzipielle Einigung« über eine mit Präsidialvollmachten ausgestattete Regierung Hitler-Papen, als deren zwei vorrangige, grundsätzliche Aufgaben zur Sprache kamen:
die »Entfernung aller Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden von führenden Stellungen in Deutschland« und die »Wiederherstellung der Ordnung im öffentlichen Leben«,
»die Abschaffung des Vertrages von Versailles... und die Wiederherstellung eines sowohl in militärischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht starken Deutschlands«.
SPD und KPD unterschätzten in diesen Wochen, in denen die Geheimverhandlungen zwischen den Naziführern, führenden Vertretern des Großkapitals, von Papen und der Entourage Hindenburgs nicht abrissen, ganz offensichtlich die fürchterliche Gefahr. Im sozialdemokratischen »Vorwärts« stand sogar zu Neujahr 1933: »Bei der Hochfinanz, bei Schwerindustrie und Großgrundbesitz hat der Hitlerismus schon seit längerer Zeit abgewirtschaftet... Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.« Verhaftet ihrer abwartenden, abwiegelnden Haltung lehnten SPD-Parteivorstand und ADGB-Vorstand, denen nach wie vor die Mehrheit der Arbeiter folgte, die Aufrufe der KPD zur gemeinsamen »Antifaschistischen Aktion«, zu Massenstreiks und zum Generalstreik ab. Die KPD bereitete sich zwar ernsthaft auf Aktionen gegen eine faschistische Machtübernahme vor, aber sie erkannte nicht, dass Arbeiterparteien und Gewerkschaften inzwischen in eine totale Defensivstellung gedrängt worden waren, aus der sie ohne gemeinsame Strategie und Kampftaktik nicht hätten herausfinden können. Die KPD-Führung propagierte nach wie vor ein »Sowjetdeutschland« und damit das offensive Ziel, dem Faschismus durch die Revolution zuvorzukommen. Auch sie war davon überzeugt, dass der Stern der Faschisten schon im Sinken begriffen war.
Am 30. Januar 1933 berief Hindenburg Hitler zum Reichskanzler.
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