Zum Beispiel Lietzen

Rundgang mit einem Grafen und Rückblick eines Direktors a.D.

  • Martin Küster
  • Lesedauer: ca. 9.0 Min.
Gebhard Hardenberg«, stellt sich der schlanke Anfangsvierziger vor. Er empfängt eine Seniorengruppe aus dem Berliner Westen. Die ist von Dietersdorf nach Lietzen Nord bei Seelow gewandert. Nach Voranmeldung besichtigt sie ein Anwesen, das sich als Komturei Lietzen ausschildert. Den Hausherrn, der zum Ende des Rundgangs eigenhändig komtureigemachte Wildschweinknacker und Minisalami verkauft, nennen die Besucher »Herr Graf«. So erzogen es sich mittlerweile auch die Lietzener an, die einst hier auf dem Gut arbeiteten, als noch VEG am Eingang zu lesen war. Die Treuhand legte das Gut 1992 in die Hand des Gebhard Graf von Hardenberg, grundbesitzender Landwirt im niedersächsischen Nörten-Hardenberg. Er hatte ostelbisches Land nicht kaufen müssen. Für den Grafen griff Abschnitt1 des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen gleich zweifach. Ein Großonkel von ihm war 1944 aus politischen Gründen verfolgt und enteignet, und zweitens war nur ein Teil des Besitzes bei der Bodenreform 1946 an Neubauern aufgeteilt worden, der andere in Volkseigentum umgewandelt. Bereits 136 Jahre zuvor ging die Immobilie schon einmal in Staatseigentum über. Am 30. Oktober 1810 nämlich unterzeichnete Preußens König Friedrich Wilhelm III. ein Edikt, das ihm sein Staatskanzler Carl August Freiherr von Hardenberg vorgelegt hatte. Es erklärte angesichts veränderter »Ansichten und Bedürfnisse der Zeit« und wegen der an Napoleon zu entrichtenden Kontributionen allen kirchlichen Grundbesitz zu Staatsgütern. Das betraf auch den im Verlaufe der Reformation zum Protestantismus übergewechselten brandenburgischen Zweig des »Ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem«, zu dessen feudalem Grundbesitz auch die Komturei Lietzen zählte. Finanzielle Entschädigung wurde gewährt. 1814 dann, nach dem Sieg über Napoleon, erhielt Hardenberg nicht nur den Rang eines Fürsten, sondern als königliche Draufgabe etlichen Grundbesitz. Der belief sich nicht nur auf das Gut Quilitz, 1815 in Neuhardenberg umbenannt, sondern auch auf die zuvor verstaatlichte Komturei Lietzen mit den Dörfern Marxdorf, Heinersdorf, Tempelberg, Neuentempel und Dolgelin, allesamt im heutigen Kreis Märkisch Oderland gelegen. Dieser »Herrschaft Neuhardenberg« stand ab 1921 ein Ururgroßneffe des Staatskanzlers vor. Jener Carl-Hans Graf von Hardenberg, der als Oberstleutnant der Wehrmacht zum Kreis der Verschwörer des 20. Juli 1944 gehörte. Bei seiner Verhaftung versuchte er sich zu erschießen. Ins KZ Sachsenhausen eingeliefert, überlebte er dank Häftlingssolidarität in der Krankenbaracke. Bevor ihm der kurze Prozess gemacht werden konnte, kam die Befreiung durch die Sowjetarmee, die nun Lietzen als eines ihrer Versorgungsgüter betrieb. Graf Hardenberg verließ die Sowjetische Besatzungszone. Er ging mit Familie nach Nörten-Hardenberg bei Göttingen, wurde Bevollmächtigter der Vermögensverwaltung des Hauses Hohenzollern und starb 1958. Sein im Jahre danach geborener Großneffe führt nun im Sommer des Jahres 2002 die Besucher aus der Stadt. Natürlich nicht über die per Vereinigungsvertrag rückübertragenen 1800 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche. Über das landwirtschaftliche Unternehmen Lietzen verlautet nur so viel: Der Großonkel habe mit Hilfe eines aus Süddeutschland geholten Verwalters den Besitz bis 1937 komplett entschuldet, und er, der Großneffe, könnte das Ererbte kaum pflegen und erhalten, besäße er »nicht noch einen Betrieb im Westen«. Doch es geht bei dieser Visite nicht um Ackerbau und Viehzucht, sondern um die Zeugnisse vorhardenbergscher Historie. Da hat sich Hardenberg junior eingelesen. In der Kirche liefern Gedenktafeln derer von Schlieben und von Schlabrendorf, die etliche der Komture stellten, Stichworte für die Besucher-Unterrichtung. Nicht jeder Fakt sitzt abrufbereit. Wie hieß doch gleich der Papst, der den Ritterorden der Templer 1312 ziemlich blutig auflöste, wodurch dann auch deren Komturei Lietzen in den Besitz des Johanniterordens gelangte? »Papst Klemes V.«, hilft ein Zuhörer aus, der sich mit Erlaubnis des Grafen der Gruppe angeschlossen hat. Die Westberliner Wanderer bewundern, wie der gegenwärtige Herr auf Lietzen Nord alles so schön gemacht hat. Vermutlich keiner von ihnen hat in dem Buch »Unterwegs mit Fontane in Berlin und Brandenburg« nachgeschlagen, herausgegeben 1993 von der in Berlin-Kreuzberg ansässigen Nicolaischen Verlagsbuchhandlung. Dort würdigt Autorin Gisela Heller: Die Lietzener VEG-»Mitarbeiter begannen, aus Achtung vor der Geschichte, die ihnen überantworteten Wohn- und Wirtschaftsgebäude zu erhalten; sie restaurierten systematisch und behutsam das ehemalige Herrenhaus mit der reichen italienischen Innenausschmückung aus dem 17. Jahrhundert, und in der renovierten Kirche St. Sebastian, deren Feldsteinmauerwerk bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht, nahmen sie die wertvollsten Grabsteine aus der zerstörten Kirche von Gusow auf«. Sowohl in der Gutskirche als auch in dem im 14. Jahrhundert aus Granitquadersteinen errichteten Speicher und bei einem gestatteten kurzen Blick ins Herrenhaus erwähnt der Graf den Namen eines dieser Verdienstvollen: Herrn Darge. Dieser Anerkennung verschließt sich einer der Wanderer, er tischt das Klischee von den »roten Baronen« auf. Den Grafen persönlich anzutreffen, war Zufall. Einen haltbaren Termin mit jenem »roten Baron« zu vereinbaren, hing vom wechselhaften Erntewetter ab. Denn Hans-Jürgen Darge war meist auf dem Feld, als Landwirt einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Der 1936 geborene Bauernsohn lernte auf einem Universitätsgut, absolvierte die Fachschule, wurde Assistent des Direktors vom VEG Neugattersleben, sammelte als Produktionsleiter in weiteren volkseigenen Gütern Erfahrung. Lietzen lernte er auf einer Fahrt mit seiner Frau Eva kennen. Damals war das ein Lehr- und Versuchsgut mit einem Professor des Instituts für Bodenkunde der Humboldt-Universität Berlin an der Spitze. Jugendlich leichtsinnig, wie es Landwirt Darge rückblickend einschätzt, ließ er sich überreden, mit Jahresbeginn 1965 hier an die Stelle des »Alten Fritz« zu treten, des im ganzen Dorf so genannten bejahrten Betriebsleiters. Vom Folgejahr an bis Frühjahr 1981 war Darge dann Direktor in Lietzen Nord. Nachdem die Akademie der Landwirtschaftswissenschaften allen Gütern eine Spezifikation zugewiesen hatte, bauten die Komturei-Lietzener bis 1969 eine Läuferproduktion auf. Direktor Darge ließ dafür Ställe rekonstruieren und neue errichten, deren Modernität, was technische Ausstattung, tiergerechte Haltung und ökonomischen Arbeitskräfteeinsatz betrifft, ausländisches Fachpublikum zu Besichtigungen anzog. Die Haltung von Zuchtenten und Legehennen erweiterte die Palette. Und was tat sich für die Produzenten? »Im Jahre 1970 bauten wir dreizehn neue Wohnungen«, berichtet unser Gesprächspartner. »Damit konnten wir auch das Herrenhaus, in dem drei Familien lebten, freiziehen und so unter anderem einen angemessenen Ort für einen Kulturraum gewinnen.« Die Bauleute des VEG modernisierten die Häuser aus Alt-Hardenbergscher Zeit, jede Wohnung erhielt ein Bad. Für den Feierabend entstand eine Kegelbahn, für Feste eine überdachte Tanzfläche. »Am Tag des Kindes war hier immer richtig was los.« Und neben alldem noch Einsatz fürs Kunsthistorische? Hans-Jürgen Darge erinnert sich: »Als ich die Arbeit in Lietzen Nord antrat, sah es rund um die Kirche aus wie bei Hempels unterm Sofa. Die Gänse liefen frei herum. Unten beim Fischerhaus am See richtete ich für sie eine Gänsekoppel ein.« Halb überwachsen lagen Grabsteine unter freiem Himmel. Der Chef ließ sie einsammeln. Subbotniks schufen Ordnung. Das Kircheninnere unter schadhaftem Dach war kahl bis auf Gestühl und Altar. »Da kam 1968 eine Doktorin vom Institut für Denkmalpflege in Berlin und fragte, ob wir bereit wären, den Epitaph des brandenburgischen Feldmarschalls Georg von Derfflinger aus Gusow bei uns aufzunehmen. Machen wir, sagte ich, dann muß aber auch das Kirchendach in Ordnung gebracht werden. - Mit dieser Sache fing alles an.« In der Totenhalle an der Kirche, im Speicher, hinter Treppen fahndeten der Direktor und seine Mitstreiter nach Sachzeugen der Vergangenheit. Einer der Funde, nur als Beispiel, war eine kreisrunde holzgeschnitzte Gedenktafel für den 1595 in Cölln an der Spree verstorbenen Komtur Hans von Thuemen, kurfürstlich-brandenburgischer Hofmarschall. Zwei alte Herren aus der Region boten sich als Amateur-Restauratoren an. Sie gingen auch dem Holzwurm im 1730 gestifteten Altar mit Injektionsspritzen zu Leibe. Eine vorerst provisorische Ausbesserung der stuckumrahmten Deckengemälde im Herrenhaus steht ebenfalls auf dem Konto dieser beiden Enthusiasten. Eine Orgel wurde bei der Firma Sauer bestellt. Mit dem Kirchen-Taufengel wäre es fast schief gegangen. In seinen Einzelteilen zur professionellen Wiederinstandsetzung nach Berlin gebracht, war er eines Tages verschwunden. Verdächtig, wertvolles Kunstgut verschoben zu haben, erhielt Direktor Darge »Besuch«. Doch Kripo und Staatsanwaltschaft spürten das kostbare Stück wohlbehalten in der Privatwohnung des in sein Werk verliebten Restaurators auf. Dank eines guten Drahtes zu A&V am Rosenthaler Platz in Berlin erwarb der Volksgutchef für das Herrenhaus gediegene Ausstattungsstücke. So kam er in einigen Fällen dem Zugriff der Firma Schalck-Golodkowski auf alte Stilmöbel aus Nachlässen und Haushaltsauflösungen zuvor. Beratend stand ihm dabei »Kunst-Fischer« zur Seite, ein junger Mann, den er mit Honorarvertrag, die Stunde zu zwölf Mark, als Restaurator beschäftigte. Für Instandsetzung dessen, was einst die Komture mit und aus den Arbeitsleistungen ihrer Gutsuntertanen hatten entstehen lassen, setzte das volkseigene Gut jährlich 150000 bis 200000 Mark ein. Der Direktor: »Als in den 70er Jahren unsere Bezirksdirektion der VEG aufgelöst und zu einem Sektor des Rates des Bezirkes wurde, haben wir aus deren Fonds 100000 Mark bekommen. Damit hat Pfennig-Fischer, unser Buchhalter, ein Konto als Grundstock eingerichtet. Und bei der Abteilung Kultur des Rates des Kreises Seelow gab es ein Ressort Denkmalpflege, dessen Mittel viele andere nicht ausschöpften. Wir verauslagten die Kosten. Dr. Badstübner vom Institut für Denkmalpflege, der uns als Experte beratend und helfend zur Seite stand, überprüfte die Rechnungen auf sachliche Richtigkeit, und dann zahlte Seelow das Geld zurück.« Kunst-Reiseführer und Touristenkarten der DDR führten Lietzen Nord in ihre Empfehlungen ein. Direktor Darge übernahm es, anreisenden Besuchergruppen vor Ort das Komtur-Erbe zu zeigen und zu erläutern. Seine maschinegetippte kurze Historie des Ortes, der Geschichte von Kunst in Kirche und Gut findet er noch heute mit einem Griff. Nicht auf Geschichtsdokumente muss sich Graf Hardenberg stützen, zeigt er vor, was er in zehn Jahren verändert hat, beispielsweise an der früher vernachlässigten, nun sehr erholsamen, gegen Unbefugte gut abgeschlossenen Seeseite des Herrenhauses. Unhistorisches hat er abreißen lassen, das Sozialgebäude unter anderem und 24 Ställe. Die Treuhand habe damals versucht, ihm mit dem restituierten Besitz auch die Beschäftigten »anzudrehen«. Seine Antwort lautete »nein«. Er habe keine Schlagzeilen gewollt: »Graf entläßt 150 Leute.« Das überließ er der Treuhand. Heute zählt die Komturei Lietzen 15 festangestellte Arbeitnehmer. Außerhalb der Besichtigungsroute sind zudem ABM-Kräfte anzutreffen. Zwei junge Frauen jäten Unkraut. Zu dem Herrn Grafen wollen sie sich nicht äußern. Verhalten lachen sie jedoch, angesprochen auf das Märchen vom gestiefelten Kater, der, der königlichen Kutsche voran eilend, den Leuten am Wege einschärfte, auf Fragen, wem die Wiese, das Kornfeld und der Wald gehöre, stets zu antworten: »Dem Herrn Grafen.« Zwei ABM-Zimmerleuten, die an einem der alten Ställe einen Vorbau hochziehen, entlockt die verbliebene, mit blauer Farbe auf roten Ziegelgrund gemalte Losung »Arbeite mit, plane mit, regiere mit« nicht mal mehr ein grimmes Lächeln. Auskunft geben sie, was der Graf anbaut: »Vor allem Korn, auch etwas Zuckerrüben und die Auflage an Raps.« Zwei treuhänderisch aus der Arbeit Entlassenen, Werner und Martha Jahn, nahm der Abrissbagger auch ihr Häuschen mit Garten, das sie mit viel Liebe um- und ausgebaut hatten. Geblieben davon ist ein Farbfoto. Nun zahlen die beiden Miete. Die vom VEG gebauten Häuser bekam der Graf nicht geschenkt. Der faktische Kaufpreis hielt sich allerdings wohl in Grenzen, da der Käufer all seine Abrisskosten der Treuhand in Rechnung stellen konnte. Neben dem Groll über verlorene Facharbeit, plattgemachten Familienbesitz sowie einige nicht eingehaltene gräfliche Versprechen bestimmt bäuerlich-pragmatisches Empfinden das Urteil von Werner Jahn über Hardenberg: »Wenn der nicht den Felix Gerlach als Verwalter hätte! Nee, der Graf würde det nie packen.« Den Grafen betreffend, versucht Martha Jahn die Rede ihres Mannes, auf ihre Art pragmatisch, etwas abzumildern. Was jedoch eine weitläufige Verwandte des Grafen, Tita von Hardenberg, vor Jahren in ihrer ORB-Reihe »Polylux« dem Zuschauer über das Lietzen Nord der DDR-Zeit weismachen wollte, hat im Dorf nicht nur die Jahns empört. Martha Jahn: »Nichts von dem, was wir den Fernsehleuten gesagt haben, ist gesendet worden. Die Dame hat stattdessen den Eindruck erweckt, als wäre hier alles ein Saustall gewesen.« Einen Epitaph vermissen wir in der Komturei Lietzen. Er sollte lauten: Wanderer kommst du des Weges, so gedenke achtungsvoll derer, die in Jahrhunderten das tägliche Brot erarbeiteten, und deren Schweiß und Mühe Stein- und...

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