Verdammte dieser Erde und angebliche Normalität

Wie entsteht Gewalt? Die fast vergessenen Theorien Frantz Fanons könnten Antworten geben

Nicht erst seit dem 11. September sind wir weltweit mit der Zunahme von Gewaltphänomenen konfrontiert. Selbst an ruhigen Orten scheint Gewalt zu lauern. Kein Zufall also, daß es ein zunehmendes Interesse an Frantz Fanon gibt, der in den sechziger Jahren als großer Theoretiker der Gewalt galt. Sein wichtigstes Buch, »Die Verdammten dieser Erde«, das die Erfahrungen der Unabhängigkeitskämpfe Algeriens und anderer afrikanischer Länder reflektiert, wurde zum »Lehrbuch« der Black Panthers, der RAF und weiterer revolutionärer Kampftruppen.
Der sechsunddreißigjährige Fanon (1925-1961) war - bewacht von der CIA - wenige Tage vor dem Erscheinen des Buchs in Washington an Leukämie gestorben und konnte keine Stellung mehr nehmen zu den seltsamen Rezeptionsweisen seines Werks. Dazu gehörte auch Kritik von Seiten des DDR-Marxismus, der nicht akzeptierte, dass Fanon anstelle der Arbeiter die Bauern als soziale Basis der Unabhängigkeitskämpfe sah. Ebenso störte, dass er in die ökonomische Analyse auch Methoden der Psychiatrie, der Soziologie und Kulturkritik einflocht. Diese Disziplinen ließ der Marxismus nur bedingt als Bestandteil der Gesellschaftsanalyse zu.
Diejenigen, die Fanons angeblichem Aufruf zur Gewalt folgten, lasen ihn wiederum zu flüchtig. Ein tiefer schürfendes Verständnis seines vielschichtigen Analyse-Instrumentariums hätte die platte Übertragung des Gewaltkonzepts für alle Weltprobleme ausgeschlossen. Die von Fanon analysierte, besonders heftige Gewalt des algerischen Unabhängigkeitskrieges hatte ihre Ursache in der von ihm ebenfalls genau beschriebenen absoluten Trennung der Gesellschaft der Algerier und der Algerienfranzosen. Das »Mutterland« - eigentlich eine Wiege der Demokratie - hatte es in 130 Jahren Kolonialgeschichte nicht zuwege gebracht, wenigstens eine relevante Elite von Algeriern am ökonomischen und demokratischen Leben zu beteiligen. Seit der Jahrhundertwende immer wieder gegründete demokratiewillige Parteien und Gewerkschaften der Algerier blieben verboten, ihre Führer waren im Gefängnis. Fanon sah genau, dass dies in anderen Kolonien teilweise anders gewesen war und dass diese Länder fast kampflos unabhängig wurden, auf dem Verhandlungswege.
Auch sah er, dass in den westlichen Ländern »moralische Reflexe« und »geradezu ästhetische Formen des Respekts vor der etablierten Ordnung« entstanden waren, die andere Wege gesellschaftlicher Entwicklung zur Ursache und zur Folge hatten. Gewaltpotenziale sah er überall wachsen, wo Menschen vom allgemeinen Fortschritt ausgeschlossen waren. Dass Fanon nicht Prophet, sondern Analytiker der Gewalt war, zeigen ein Portrait von Alice Cherki und eine umfangreiche Biografie von David Macay.
Sein eigentlicher Ausgangs- und Zielpunkt war ein radikaldemokratischer. Fanon wurde 1925 auf Martinique geboren, in einer bildungsbeflissenen Familie des schwarzen Mittelstands. Und er fühlte sich so sehr als Sohn der Republik, dass er im Zweiten Weltkrieg nicht die auf der Insel gängige (auch von seinem Lehrer Aimé Césaire vertretene) Ansicht teilte, dass es für die Schwarzen nur gut sein könne, wenn sich die Weißen untereinander bekämpften. Der Siebzehnjährige begab sich heimlich nach Dominique, um zu den Streitkräften des Freien Frankreich zu stoßen, wurde aber nach Hause zurückgeschickt. Erst im März 1944 konnte er sich mit diesem Ziel einschiffen lassen. Beim Einsatz im Elsaß erlebte er, dass das Regiment der Antillianer als Kanonenfutter gebraucht wurde, nicht aber, wenn es um das gefahrlose, aber ehrenvolle Besetzen eines Landstrichs ging. Vom Rassismus in der französischen Armee enttäuscht, schrieb er an seine Eltern, dass er einen anderen Krieg erlebe als den, den er erwartet hatte: »Ich habe mich geirrt.«
Nachdem Fanon als Kriegsveteran auf Martinique Abitur gemacht hatte, kehrte er nach Frankreich zurück. Er wollte nicht unter den Studenten der Antillen in Paris leben, sondern als Franzose unter Franzosen. Deshalb nahm er ein Medizinstudium in der Provinz auf, in Lyon.
Für die, die ihn kennen lernten, glich er einer »lodernden Fackel«. Nicht mit Demut, sondern mit scheinbar überheblichem Stolz reagierte er auf jegliche rassistische Anwandlung. Damit verhinderte er sie oft und wurde von vielen - wie später auch von Sartre - als der erste Schwarze wahrgenommen, bei dem man schnell vergaß, dass er schwarz war. Um 1950 schrieb er mehrere philosophische Dramen. Vergeblich schlug er sie Jean-Louis Barrault zur Aufführung vor. Fanon entschied sich für eine Spezialisierung in der Psychiatrie. Er wurde mit den therapeutischen Methoden von François Tosquelles bekannt, die mit der Tradition brachen, den psychisch kranken Menschen von der Umwelt zu isolieren.
Tosquelles und Fanon lag es fern, biologische Faktoren bei psychischen Krankheiten zu unterschätzen, auch wandten sie durchaus die damals üblichen Psychopharmaka und sogar Elektroschocks an. Aber sie gaben den krankmachenden Impulsen aus der Gesellschaft eine größere Bedeutung als die Schulpsychiatrie. Sie versuchten, den Kranken in ein neues, wenn möglich aktives Verhältnis zu seiner Umwelt zu setzen. Um ihm dafür Kraft zu geben, begann Fanons Therapie oft mit Schlafkuren. Als er 1953 mit seiner französischen Frau Josie ins algerische Blida kam, wo er die Leitung der psychiatrischen Klinik übernahm, führte Fanon im Pavillon der europäischen Frauen sofort die Methoden Tosquelles ein: Ärzte, Pfleger und Kranke wurden zu einer Gemeinschaft mit kulturellem Leben und regelmäßigen Versammlungen. Jeder hatte definierte Rechte und Pflichten. Der Zustand der Kranken besserte sich so, dass Fanon ein ähnliches Experiment im Pavillon muslimischer Männer begann, welches jedoch scheiterte.
Damals machte Fanon den entscheidenden Schritt über die seinerzeit herrschende koloniale Form der Psychiatrie hinaus. Diese sah die Algerier biologisch zur Gewalt prädestiniert. Andererseits wollte sie die psychisch Kranken in Hinblick auf ein eurozentrisches Bild der Normalität therapieren. Es gab kein diagnostisches oder therapeutisches Verfahren, das der realen Kultur der Algerier entsprach. Weil er ebenfalls, aber anders »kolonisiert« war, war Fanon als erster überhaupt in der Lage, dieses Problem zu erkennen. Deshalb intensivierte er die Rolle des algerischen Pflegepersonals, kommunizierte mit dessen Hilfe mit den Kranken auf arabisch, bzw. in einer der Berbersprachen. Um die Herkunft eines Kranken zu ermitteln, der die Sprache verloren hatte, wurde sogar ein Musiker bemüht, der Melodien aus allen Landesteilen spielte. Der Patient reagierte schließlich positiv auf Harmonien der Tuareg. Durch zahlreiche Exkursionen in die nahegelegene Kabylei eignete sich Fanon nun planmäßig Wissen über die algerische Kultur an. Wichtig war die Entdeckung, dass der Wahn hier als Besessenheit durch Geister verstanden wurde, die der Umgebung Achtung abverlangte. Dies sicherte den Kranken eine günstigere Stellung in Familie und Gesellschaft, als es damals im westlichen Kontext üblich war. Fanon erkannte nun auch: der Misserfolg im Pavillon der muslimischen Männer lag darin begründet, dass man ihnen Beschäftigungen angeboten hatte, die in ihrer Kultur als Frauenarbeit galten. Positive Resultate brachte erst die Errichtung einer Moschee und eines maurischen Cafés. Analog dazu sollten die europäischen Männer später ein französisches Café bekommen. Diese aus praktischen Erfordernissen entsprungene Entdeckung des Kulturrelativismus hinsichtlich des Wahns erkannte Fanon sofort auch in ihrer allgemeineren Bedeutung für die Definition des »Normalen« in Kultur und Gesellschaft.
Schon ein Jahr nach seiner Ankunft in Blida begann der algerische Unabhängigkeitskampf. Nun bekam er Patienten, deren Symptome durch Folterungen ausgelöst waren. Bemerkenswert ist, dass er trotz seiner Sympathie für die Unabhängigkeitsbewegung als Arzt auch ohne jede Einschränkung der anderen Seite zur Verfügung stand. Er behandelte auch Folterer, die durch ihre Tätigkeit psychische Probleme hatten.
Der Krieg erzeugte eine bislang unvorstellbare Eskalation der Gewalt. In den »Verdammten« beschreibt Fanon den Fall zweier Jungen von 13 und 14 Jahren, die ihren französischen Freund umbrachten, obwohl sie sich nicht gezankt hatten. Rührungslos erklärten sie, dies sei für sie die einzig mögliche Form der Rache dafür, dass die Franzosen unschuldige Algerier töteten. Den Gleichaltrigen hätten sie als Opfer gewählt, weil sich nur ein Freund leicht in einen Hinterhalt locken ließ.
Fanon beschreibt, wie die alltägliche Gewalt des Kolonialismus - die bei der Zerstörung der traditionellen Kultur und Lebensgrundlagen begonnen hatte, ohne dass die Menschen am allgemeinen Fortschritt teilnehmen durften - Gewaltträume und Muskelanspannungen auslöst. Ausübung von Gewalt kann vom Kolonisierten zunächst als Befreiung und sogar als Wiedererringung der Würde erlebt werden.
Aber Fanon gibt auch genügend Beispiele, wie die Psyche der Unabhängigkeitskämpfer, insbesondere wenn sie terroristische Gewalt gegen Zivilisten verübten, von Zweifel, Reue und schweren Störungen befallen wurde. Das widerlegt die Legende, dass er ein Gewaltprophet war. Aus psychiatrischem Blickwinkel also leitete er die Unhaltbarkeit der Situation für Kolonisierte und Kolonisatoren ab. Aber die französische Politik hatte in Algerien keine Situation geschaffen, die einen friedlichen Weg zur Unabhängigkeit ermöglicht hätte. Die Klinik in Blida lieferte dem Widerstand Medikamente und bot Kämpfern Unterschlupf und Hilfe. Ehe die Behörden einen Verdacht erhärten konnten, reichte Fanon einen später als Plädoyer für die Unabhängigkeit Algeriens berühmt werdenden Demissionsbrief ein. Gefolgt von einem Teil der Mitarbeiter - darunter auch Alice Cherki - ging er 1955 nach Tunis, wo die algerische Exilregierung residierte. Fanon richtete eine Tagesklinik ein, wo die Kranken therapiert wurden, ohne ganz aus ihrer sozialen Umgebung gerissen zu werden.
Schließlich wurde er reisender Botschafter bei mehreren bereits unabhängigen afrikanischen Staaten. In Accra zeigten sich 1960 erste Zeichen der tödlichen Krankheit. Fanon schrieb Artikel und Bücher nicht selbst nieder, er diktierte sie. Die Arbeit an den »Verdammten« wurde zum Wettlauf mit der nun rasch ablaufenden Lebensuhr, was dem Werk seinen atemlosen Rhythmus verlieh. Es stellt ein eigenartiges Geflecht dar zwischen der Analyse des damals noch nicht beendeten algerischen Unabhängigkeitskrieges und Analysen der Situation der jungen schwarzafrikanischen Staaten. So entstand ein für eine Revolutionsschrift einzigartiges Gefälle zwischen noch vorhandenem Optimismus für die künftige algerische Entwicklung und schärfster Kritik an der postkolonialen Entwicklung anderswo.
1987 hat eine internationale Fanon-Tagung das demokratische Potenzial von Fanons Denken erstmalig für Algerien herausgestellt. Dies gilt als Geburtsstunde der algerischen Zivilgesellschaft. In den achtziger Jahren hatte sich auch in den USA eine demokratisch ausgerichtete Fanon-Rezeption entwickelt. Sie ging von Gruppen um die New Alliance Party aus, die für Rechte von Farbigen, Frauen und Homosexuellen eintrat. Ihre Leiterin, Eleonora Fulani, die 1988 für die Präsidentschaft kandidierte, war selbst Psychotherapeutin. Nachfolgeorganisationen der NAP wollten zum 40. Todestag Fanons, am 6. Dezember 2001, einen Internationalen Kongress in Manhattan organisieren. Das französische Kulturinstitut und das US-amerikanische Kulturministerium sagten Unterstützung zu. Dieses Projekt musste jedoch wegen des Attentats auf das World Trade Center vertagt werden.
Eine Wiederbesinnung auf Fanon könnte beitragen, einen Teil der komplexen Ursachen dieses entsetzlichen Ereignisses zu verstehen. Macays Biografie liefert zwar die an Umfang und Bedeutung bislang besten Recherchen zu Fanons Leben. Da er aber eher Kenner der französischen Philosophie und Psychoanalyse als der Entwicklungsländer ist, überzeugen seine Analysen nicht immer. Hier liegt die Stärke von Cherki, die Schülerin Fanons war und als Psychiaterin und Psychotherapeutin für Maghrebiner in Paris tätig ist.
Fanons Beobachtung, dass die Wahrscheinlichkeit von Gewalt steigt, wenn die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen zunimmt, ist für sie weiterhin aktuell. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis von reichen und armen Ländern, sondern auch für die politisch, kulturell und ökonomisch nachteilhafte Lage vieler Immigranten in den westlichen Ländern. Deren Jugend stellt ein unberechenbares Gewaltpotenzial dar. So überzeugt Fanon war, dass nicht nur psychisch Kranke, sondern Marginalisierte überhaupt nur durch Wiederaneignung ihrer Kultur zu sich selbst finden können, so entschieden verurteilte er alle unhistorischen Konzepte traditioneller Kulturen.
Fälschlich auf Fanon beruft sich die im Iran und auch im Westen verbreitete Ethnopsychiatrie, die durch gettoartige Rekonstruktion traditioneller Kulturräume Gesundheit und Frieden schaffen will. Das Stehenbleiben oder gar das Zurückgehen auf eine kulturelle Stufe der Vergangenheit - wie es Islamisten vertreten - führt nach Fanon zur »Versteinerung«. Zwar steht die Anerkennung der Würde der traditionellen Alltagskultur am Beginn jeder Verständigung. Eine Konfliktlösung erfolgt jedoch nur, wenn die Marginalisierten in die allgemeine Entwicklung eingebunden werden.

David Macay: Frantz Fanon. A Biography. Picador, New York 2001; Alice Cherki: Frantz Fanon. Un portrait, Seuil, 2000. Erscheint im März 200...

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