»Wir waren zu lange zu brav«

Hungerstreikende Bahn-Arbeiter in Nürnberg wollen so lange ausharren, bis ihnen der Weiterbestand des Werkes garantiert wird.

  • Olaf Michael Ostertag, Nürnberg
  • Lesedauer: ca. 4.5 Min.
Bahn-Ausbesserungswerk Nürnberg: 750 Beschäftigte, 100 % Kapazitätsauslastung, eigentlich unersetzlich in der »schweren Instandsetzung« der ICE-1 und -2-Züge. Bis vor vier Monaten galt das Werk als absolut krisenfest. Vor vier Monaten kam das »Berger- Gutachten«. Das »Berger-Gutachten«, dessen Empfehlungen Bahn- Vorstand Mehdorn folgen will, schlägt für Nürnberg den totalen Kahlschlag vor: Schließung des Werkes bis Ende 2003. Die Arbeiten könnten ohne Probleme auf andere Werke verteilt werden. »Das versucht man zurzeit ständig mit uns: Man droht damit, uns die Arbeiten wegzunehmen, und dann kommen sie drauf, dass sie doch nur bei uns erledigt werden können. In unserer Lackiererei werden derzeit die alten IC-Züge auf weiß/rot umgespritzt. Ein Großauftrag, der war schon mal komplett weg. Jetzt ist er wieder da«, sagt Werksbetriebsrat Harald Weiss. Die gleiche Erfahrung machten die Beschäftigten des DB-Werkes Limburg/Lehn. Dort war der Bereich Schienenbremsen vorübergehend anderweitig vergeben - was als Dauerlösung gemeint war, hielt nur wenige Wochen. »Wir haben ein Wirtschaftsgutachten, das uns bescheinigt, dass wir im Bereich der Komponentenfertigung 75 % billiger sind, als wenn die Bahn die Aufträge an private Unternehmen vergeben würde«, sagt Gerhard Klotz, der bis vor kurzem Betriebsrat im Werk Limburg war. Bis vor kurzem, denn da wurde das einst stolze Werk Limburg, das nach dem Krieg 2400, 1983 noch 1200 Beschäftigte zählte, nochmals verkleinert und geteilt: 85 Beschäftigte kamen zu DB-Regio Rheinland-Pfalz, 145 Beschäftigte des Bereiches »Technische Instandhaltung« (TI) wurden verwaltungstechnisch dem Werk Nürnberg zugeschlagen. Man möge sich das einmal auf der Landkarte anschauen: über 300 Kilometer liegen nun zwischen den Beschäftigten und dem für sie zuständigen Betriebsrat. Dabei hatte man den Limburgern noch erzählt, dass sie mit der Angliederung an Nürnberg jetzt zu einem Werk gehörten, dessen Bestand nicht gefährdet sei. Nun will man das Gesamtgebilde abwickeln - obwohl die Auslagerung der Betriebsteile für die Bahn im Ergebnis vermutlich erhebliche Kostensteigerungen bedeuten wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Satz gilt: Einsparungen, das ist, wenn nachher alles viel teurer ist als vorher. Deshalb hängt Kotz jetzt mit vier Kollegen und einer Kollegin festgekettet am Nürnberger Werkstor. Am Dienstag hatte der Betriebsrat zu einer Gesamtversammlung geladen, und tatsächlich kamen auch 100 Kollegen aus Limburg. Die Wogen gingen hoch, und in einer spontanen Aktion »eröffnete der Betriebsrat ein Außenbüro am Werktor«, so die offizielle Formulierung, damit auch ja keiner auf die Idee kommt, eine gewaltsame Räumung durchzuführen. Polizei und Grenzschutz sind zwar jeden Tag da, aber nur, »um mal zu schauen«. Die sechs Betriebsräte - denn nur als solche dürfen sie das »Außenbüro« besetzen - werden von ihren Kolleginnen und Kollegen tatkräftig unterstützt. Jetzt verlässt kein Wagen mehr das Gelände unkontrolliert - die Belegschaft befürchtet, dass bereits Auslagerung von Werkstücken und Know-how im großen Stil stattfindet. Eine gewisse volksfestartige Stimmung am Schlagbaum wird durch die Dauerpräsenz eines SPD-Infozeltes unterstützt, um das sich demnächst wohl noch weitere gruppieren werden. Die Medienpräsenz vor Ort nimmt zu; auch die CDU-Bundestagsabgeordnete Renate Blank war inzwischen da und sprach den Protestierenden Mut zu: »Das wollen wir doch mal sehen, ob wir das gemeinsam nicht noch abwenden können. Ich bin Berufsoptimist.« Derweilen ging der Deutsche-Bahn-Vorstand auf Tauchstation. Nur eine kurze Meldung über einen Handy-Informationsdienst war zu vernehmen, wonach die Deutsche Bahn gegen jede Störung massiv vorgehen werde. Ob damit allerdings die Nürnberger gemeint waren, konnte man dem Text nicht entnehmen. Falls sich allerdings die Vorstände vorgenommen haben sollten, die sechs Betriebsräte auszuhungern, werden sie Pech haben. Denn bei diesem Hungerstreik besteht zu keinem Zeitpunkt Lebensgefahr. Es handelt sich mehr um eine Art Diätstreik: Wasser und Brot sind erlaubt (und Sprudel und Butter und auch die bayrisch- fränkische Spezialität »Obatzder« = angemachter Käse). »Und wenn doch mal einer schlapp machen sollte, dann gibt es genügend, die liebend gerne seinen Platz einnehmen werden«, meint einer der Beschäftigten. Kein Wunder, die aufgebauten Feldbetten sehen einigermaßen bequem aus und solange das Wetter anhält, schläft man sowieso lieber im Freien. Noch macht das Ganze Spaß. Daraus kann aber auch Ernst werden, je länger es dauert. Die erste bahnärztliche Untersuchung ist für Freitag angesetzt. »Das Schöne ist, dass jetzt Bewegung auch in die anderen Werke kommt. Nicht auszuschließen, dass sich woanders Bahnwerker zu ähnlichen Protestaktionen zusammenfinden«, meint Josef Reinsch, 53, einer der Angeketteten. »Sein Sohn lernt gerade Industriemechaniker im Werk Nürnberg und hatte bis vor kurzem die Erwartung auf eine sichere Stelle. »Besonders absurd auch, dass viele Kollegen aus den neuen Bundesländern hierher nach Nürnberg geholt wurden, weil das Werk ja so besonders sicher sei.« Da erheben sich etliche zustimmende Rufe im vertrauten sächsischen und thüringischen Tonfall. Wenn man in den Sparvorschlägen doch nur einen Sinn erkennen würde. »Es kann ja durchaus sein, dass es in dem einen oder anderen Werk Einsparpotenziale gibt, das bestreitet auch die Gewerkschaft nicht«, so Werksbetriebsrat Weiss. »Aber dann soll man uns die Zukunft aufzeigen. Nürnberg muss nicht bei der ICE-Instandhaltung bleiben. Wenn wir ab morgen statt dessen den Transrapid übernehmen sollten, sagen wir auch nicht nein. Wir könnten uns im äußersten Fall auch den Fortbestand des Werkes als Privatunternehmen vorstellen. Aber unsere Aktion wird weitergehen, bis wir für die Arbeitsplätze eine Bestandsgarantie erhalten.« »Wir waren zu brav«, sagt Gerhard Kotz. »Immer haben wir Bahner uns irgendwie arrangiert, auch wenn der Druck von oben groß war. Aber jetzt sehen wir ja, wohin uns das gebracht hat. Zum Glück gibt`s für Menschen keinen Maulkorb wie für Schäferhunde.« Aber an einer Kette hängt er schon. Auch wenn sie zehn...

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