Es stinkt nach Himmler

Alt Rehse erinnert an braune Mörder in Weiß

  • Hans Canjé
  • Lesedauer: 3 Min.
Als »Ort der Idylle und des Schauderns zugleich« bezeichnet Prof. Matthias Pfüller, Vorsitzender der »Politischen Memoriale« in Mecklenburg-Vorpommern, den kleinen Ort Alt Rehse am Tollensesee unweit von Neubrandenburg. Von der Idylle fast berauscht waren 1995 die Mitglieder der Auswahlkommission für das schönste Dorf im Lande. Sie erhoben unter Würdigung des »historischen Dorfensembles« und der »fantastischen Bausubstanz« Alt Rhese zum 1. Landessieger. Das war, ein Zufall gewiss, fast genau 60 Jahre nach einer ähnlichen Lobpreisung der Gemeinde als »Musterstück deutschen Bauens« und »Inbegriff harmonischen und naturverbundenen Wohnens« im »Rostocker Anzeiger«. Im Juni 1935 geriet Alt Rehse in die Schlagzeilen der braunen Presse, als hier durch den »Reichsärzteführer im Beisein des Stellvertreters des Führers« die oberste Kaderschmiede der faschistischen Medizin, die »Führerschule der deutschen Ärzteschaft«, feierlich eröffnet wurde. Der Rundfunk übertrug das Ereignis landesweit. Und durch das »Deutsche Ärzteblatt« dem Organ des Deutschen Ärzteverbandes (Hartmannsbund), erfuhr jeder im Bereich der Medizin Tätige, um was es künftig gehen sollte: »Auslese« jener, die nach der »weltanschaulichen Erziehung in der Partei ärztliche Führer« sein sollten, war Alt Rehse vorbehalten. Schnörkellos wurde die Grundlage der Ausbildung beschrieben. Schulungsleiter Oberfeldarzt Dr. Peltret sprach über die »Stärkung der rassischen Kräfte eines Volkes«. Nur »wertvolle Mitglieder in genügender Zahl« sind in die Volksgemeinschaft aufzunehmen bei »Ausschluss der Untauglichen durch Verhinderung ihrer Fortpflanzung«. Hitlers Stellvertreter, Rudolf Heß, nicht minder deutlich: »Der nationalsozialistische Rassegedanke fordert eine Ausmerzung der Erbuntüchtigen und eine Förderung alles wertvollen Rassengutes.« An die 40000 Frauen und Männer gingen durch diese Schule: Experten des Euthanasie-Mordprogramms, Spezialisten für »medizinische« Experimente, für den Mord an Juden, Sinti und Roma. Seit kurzem erinnert im ehemaligen Gutshaus die Ausstellung »Alt Rehse und der gebrochene Eid des Hippokrates« an die Geschichte des Ortes, den die faschistischen Herrscher parallel zum Aufbau der »Reichsärzteschule« als »Nationalsozialistisches Musterdorf« entwickelten. Auf etwa 180 Quadratmetern ist hier dargestellt, was mittlerweile an Untersuchungen über den Ort und die Schule bekannt ist. Diese Ausstellung soll der Beginn sein, Alt Rehse zu einer Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte zu machen. Schon bis zum heutigen Stand war es für die heutigen Mitglieder des Fördervereins und deren Vorgänger ein beschwerlicher Weg. Zum einen hatte sich der Ort nach der »Wende« gegen unverschämte Rückerstattungsforderungen der Kassenärztlichen Vereinigungen zu wehren. Die wollten nicht weniger als das ganze Alt Rehse, an die 500 Hektar Land mit einem Verkehrswert von einer Milliarde Mark 1995 (ND berichtete erstmals am 10. Dezember 1996: »Ein Dorf kämpft um seine Vergangenheit und Zukunft«). Zum anderen zeigten die Ärztevereinigungen wenig Neigung, sich ausgerechnet an diesem Ort, so der damalige Bürgermeister Wolfgang Köpp im ND-Gespräch, »wo es an allen Ecken nach Himmler und Bormann stinkt«, zu ihrer Vergangenheit zu bekennen und einer Stiftung zur Erinnerung zu zustimmen (ND, 12./13. Februar 2000). Nun kann sich der Besucher einen ersten Überblick verschaffen. Dokumentiert wird der Aufbau der Schule in der Parkanlage. Zu sehen ist der Lehrplan des »1. Jungarztkurses« vom 8. März bis 4. April 1936. Da wurden schon für Ärzte, NS-Schwestern und Mitarbeiter des Roten Kreuzes die Schlussfolgerungen aus Nürnberger Rassengesetzen gezogen. Über die Aufgaben der Heilanstalt Hohenlychen sprach SS-Gruppenführer Prof. Gebhard, 1947 wegen viehischer Experimente an Frauen aus dem KZ Ravensbrück im Nürnberger Ärzteprozess zum Tode verurteilt wurde. Die Ausstellung führt hin zu den Vernichtungsstätten, den Heil- und Pflegeanstalten, erinnert an 400000 Zwangssterilisierte und über 75000 ermordete »lebensunwerte« Menschen. Der Förderverein hat große Pläne. Zusammen mit der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, dem Zentralrat der Juden, medizinischen Bildungseinrichtungen und weiteren Partnern möchte man »Alt Rehser Seminare« ins Leben rufen. Die Vision: Eine Forschungsstätte über Medizinverbrechen in der Nazi-Zeit könnte hier entstehen. Noch ist der Park verschlossen, untersteht dem Bundesvermögensamt. Und Realität ist, dass derzeit nicht sicher ist, ob der Projektleiter der Ausstellung weiter beschäftigt werden kann.
Kontaktadresse: Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse, 17217 Alt Rehse
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