Die kleinste Parfümfabrik der Welt
Düfte nach Gewicht bei »Harry Lehmann« in der Kantstraße
Es duftet: süßlich und zart, herb, würzig und betörend. Wer den kleinen Laden an der Charlottenburger Kantstraße 106 betritt, schwebt auf einer riesigen Parfümwolke. Mehr als 50 verschiedene Gerüche beherrschen den Raum. Unzählige Glasflaschen, Fläschchen, elegante Zerstäuber und Flakons stehen nebeneinander in den Regalen. Oben sind die großen Behälter mit den farbigen Eau de Cologne-Flüssigkeiten aufgereiht, darunter die kleineren mit Parfüms gefüllt. Daneben stehen zwei goldfarbene Apothekerwaagen. So ganz anders als in modernen Parfümerien.
Bei »Harry Lehmann - Parfüm nach Gewicht« gibt es keine aufdringlich geschminkten Verkäuferinnen, keine Kosmetik und keine Markenartikel. Denn in der Duftfabrik werden nur eigene Kreationen verkauft. Und das schon seit 76 Jahren. »Wir sind das einzige Geschäft dieser Art in Deutschland«, sagt Edith Lehmann, die seit nunmehr 70 Jahren dabei ist. Ihr Schwiegervater hatte 1926 die Idee für »die kleinste Parfümfabrik der Welt«. »Er wollte, dass sich Frauen und Männer täglich mit schönen Düften umhüllen können«, erzählt die elegante Dame, der man ihre 85 Jahre wahrlich nicht ansieht. Jeder sollte in den Genuss kommen, auch Leute mit kleinem Geldbeutel.
Und so wurde im ersten Geschäft an der Potsdamer Brücke in Berlin mit dem Verkauf nach Gewicht begonnen. »Wir haben die verschwenderischen Verpackungen und teuren Flakons einfach weggelassen«, sagt Edith Lehmann. Damals brachten die Kunden ihre eigenen Fläschchen mit und konnten anfangs aus zehn verschiedenen Parfümsorten wählen. Mittlerweile fällt die Entscheidung schwerer, denn man muss sich zwischen fünfmal so vielen Gerüchen entscheiden. Ob »Roter Mohn«, »Valldemosa«, »Fantasie« oder »Maiglöckchen«, bei »Harry Lehmann« kann jeder jede Flasche öffnen und schnuppern. Edith Lehmann ist dabei gern behilflich.
Vorsichtig zieht sie die Glaspfropfen aus den Behältern und hält sie dem Kunden unter die Nase. Die freundliche Dame mit dem weißen Kittel und dem fein frisierten Haar registriert nun ganz genau jede Regung. Denn rein optisch gelinge es ihr selten, den Leuten gleich einen bestimmten Duft zuzuordnen, sagt sie. Erst nach der kleinen Riechprobe weiß sie ganz sicher, ob es sich um einen blumigen Typ handelt, einen Verehrer des Orientalischen oder ob die Ledernote bevorzugt wird. »Manche probieren immer etwas Neues, andere bleiben ihrer Wahl ein Leben lang treu.« Wer will, kann sich auch seine eigene Note zusammenstellen lassen. Sie selbst benutzt seit 20 Jahren ihre Lieblingsmarke »St. Tropez«. Diesen zarten, frischen Duft hat sie einst mit kreiert. Inzwischen überlässt sie das Tüfteln und Probieren aber ihrem jüngsten Sohn.
Seit ihr Mann Harry vor mehr als 30 Jahren starb, wurde Lutz Lehmann zum Parfumeur. Viele Rezepturen und Tricks hat er von seinem Vater übernommen, denn in Deutschland ist Parfümhersteller kein Ausbildungsberuf. Bis ein neuer Duft entsteht, vergehen oft Monate. So werden die »Zutaten« immer wieder verändert oder in einer anderen Reihenfolge zusammengeführt. Dann heißt es riechen, im Selbstversuch testen oder auch mal Freunden eine kleine Probe überreichen. Erst wenn die Schöpfer mit dem Duft zufrieden sind, beginnt die Namenssuche. Edith Lehmann lässt sich dabei von ihren Gefühlen leiten. Sie versucht herauszufinden, woran sie eine bestimmte Kreation erinnert. Das können Städte sein, Blumen oder Pflanzen.
Woraus die verschiedenen Parfümsorten bestehen, bleibt das Geheimnis von Mutter und Sohn. »Grundlage bilden Öle und Alkohol«, erklärt die Geschäftsinhaberin. So vereint manche Duftnote 80 unterschiedliche Öle. Sie werden aus Moosen, Blüten, Farnen, Harzen oder Hölzern gewonnen. Die meisten Grundstoffe kommen aus Frankreich, wo große Fabriken die Rohstoffe in riesigen Kesseln destillieren.
Wenn Lutz Lehmann sich auf die Suche nach einem neuen Duft begibt, lässt er sich auch von aktuellen Trends leiten. Während vor zwanzig, dreißig Jahren weiche, dezente Noten bevorzugt wurden, sind heute vor allem starke und fruchtige Gerüche gefragt. »Die Leute wollen es jetzt lauter«, sagt Edith Lehmann. So gehört »Lambada«, der Wohlgeruch der Vorsaison, der als erogen, blumig und würzig beschrieben wird, zu den Rennern in dem kleinen Charlottenburger Laden. Junge Mädchen bevorzugen »Maiglöckchen« und Damen mittleren Alters greifen gern zum »Roten Mohn«, dem dunklen, orientalischen Tropfen.
Ein Tabu gibt es: Die »Duftküche« in den Kellerräumen des alten Hauses darf kein Fremder betreten. Selbst das Angebot eines Fernsehteams, »für viel Geld« zu drehen, lehnten Lehmanns ab. »Wir wollen nicht, dass uns jemand reinguckt«, begründet die Charlottenburgerin. Obwohl sie sich eigentlich längst zur Ruhe setzen könnte, steht sie noch im Laden. »Ich liebe die Abwechslung und das Gespräch mit den Kunden«, sagt sie. Und hofft, dass vielleicht eines Tages mal ihre Urenkel das Geschäft übernehmen.
»Harry Lehmann - Parfüm nach Gewi...
Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.