Dieser Text ist Teil des nd-Archivs seit 1946.

Um die Inhalte, die in den Jahrgängen bis 2001 als gedrucktes Papier vorliegen, in eine digitalisierte Fassung zu übertragen, wurde eine automatische Text- und Layouterkennung eingesetzt. Je älter das Original, umso höher die Wahrscheinlichkeit, dass der automatische Erkennvorgang bei einzelnen Wörtern oder Absätzen auf Probleme stößt.

Es kann also vereinzelt vorkommen, dass Texte fehlerhaft sind.

  • Als Rudolf Herrnstadt bolschewistische Selbstkritik und konsequente Demokratisierung forderte

Wenn Arbeiter die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld

  • HELMUT MÜLLER-ENBERGS, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit die Deutsche Demokratische Republik am 7. Oktober 1949 als Alternative zu dem anderen deutschen Staat westlich der Elbe entstanden war, mußte sie den erbitterten Haß und einen permanenten unterschwelligen Krieg von Bonn aus erdulden. Doch die Ursachen für die Mitte des Jahres 1953 aufgebrochene Krise in der DDR lagen wahrlich nicht jenseits der Grenzen. In einem am 2. Juni 1953 an führende Vertreter der SED – Otto Grotewohl, Fred Oelßner und Walter Ulbricht – in Moskau übergebenen Beschluß des Politbüros des ZK der KPdSU (B), der in zwanzig detaillierten Punkten absteckte, wie ein neuer Kurs „zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik“ beschritten werden sollte, hieß es: „Als Hauptursache der entstandenen Lage ist anzuerkennen, daß gemäß den Beschlüssen der Zweiten Parteikonferenz der SED, gebilligt vom Politbüro des ZK der KPdSU (B), fälschlicherweise der Kurs auf einen beschleunigten Aufbau des Sozialismus in Ostdeutschland genommen worden war ohne Vorhandensein der dafür notwendigen realen sowie innen- als auch außenpolitischen Voraussetzungen.“

Der Beschluß des Politbüros des ZK der KPdSU bildete die Grundlage für die hitzig geführten Debatten auf der Politbürositzung der SED am 6. Juni 1953. Drei Themen standen im Mittelpunkt der Diskussionen: Sofortmaßnahmen zur Umsetzung der Empfehlungen der KPdSU, die Ausarbeitung eines programmatischen Dokuments und die Rolle des Generalsekretärs der SED, Walter Ulbricht. Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des „Neuen Deutschland“, artikulierte damals die Stimmung innerhalb des Politbüros, als er ausführte, daß die Parteiführung irrealen Vorstellungen angehangen habe, als sie annahm, die Deutschlandfrage löse sich beim Aufbau des Sozialismus von allein bzw. würde „letzten Endes von den Bajonetten der Sowjetarmee geregelt“ werden. Seine Rede darf als programmatische Linie des Politbüros bis in die ersten Julitage 1953 angesehen werden. Herrnstadt

folgerte aus dem Beschluß des Politbüros der KPdSU bezüglich der fehlenden Voraussetzungen fü» den Aufbau des Sozialismus, daß die Fehler öffentlich korrigiert werden müßten. Wer aber, so fragte er weiter, trage die „Schuld“ für diese Fehler? Herrnstadt antwortete: „Natürlich sind wir alle schuld, und es wäre lächerlich und aufreizend, sich jetzt mit der Frage der Dosierung der Schuld befassen zu wollen.“ Lehren müßten jedoch gezogen werden.

Um welche Fehler ging es? Die Partei hatte sich – so Herrnstadt – von den Massen gelöst, diesen ungenügende Achtung entgegengebracht, ja sogar ein zynisches Verhalten ihnen gegenüber an den Tag gelegt und deren Bereitschaft zur Partizipation bei der Lösung der anstehenden Probleme nicht genutzt. Des weiteren bemängelte er die Verweigerung ernster wissenschaftlicher Analysen der Lebensfragen sowie eines verantwortungsbewußten, kühnen Meinungsstreits. Daraus folgerte Herrnstadt, sofort konkrete Maßnahmen zu beschließen und durchzuführen. Neben einer ZK-Erklärung müsse „bolschewistische Selbstkritik“ erfolgen. Das Politbüro schloß sich seinen Überlegungen an, rief entsprechende Kommissionen ins Leben.

Am 11. Juni 1953 veröffentlichte „Neues Deutschland“ das Kommunique des Politbüros – ein Dokument der radikalen Wende. Ausgehend vom „Ziel der Herstellung der Einheit Deutschlands“ wurde der DDR-Regierung „eine Reihe von Maßnahmen“ empfohlen, -„die der entschiedenen Verbesserung der Lebenslage aller Teile der Bevölkerung und der Stärkung der Rechtssicherheit“ dienen sollten. Aller Teile? Gewiß nicht, denn nur eine knappe Woche später meldeten sich die Arbeiter zu Wort, deren elementare Lebensinteressen man nicht berücksichtigt hatte. Sie forderten nun am 16./17. Juni die Rücknahme der Normenerhöhung. Es bedurfte also erst der Rebellion, daß man sich der Werktätigen erinnerte.

In der eiligst zu später Abendstunde am 21. Juni einberufenen

14. ZK-Tagung wurden die Ereignisse vom 16./17. Juni 1953 bewertet. Das im Ergebnis der Diskussion verabschiedete Kommunique gewichtete die westlichen Versuche zur Einflußnahme – verstanden als „faschistische Provokation“ und als „Tag X“ – sowie die zu Recht offen, auf der Straße artikulierten Interessen der Arbeiter fast gleichrangig. Zugleich hieß es hier, die „Mißstimmung einiger Teile der Bevölkerung“ sei der Parteipolitik der letzten Jahre zu verdanken, „wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht der Arbeiter“! Es wurde unter Hochdruck an der Konzeption einer Demokratisierung der SED weitergearbeitet Eine Kommission, bestehend aus Walter Ulbricht, Heinrich Rau und Rudolf Herrnstadt, bemühte sich um den Entwurf für eine ZK-Erklärung. Im zweiten Entwurf wird kategorisch gefordert, die Parteispitze, das Zentralkomitee und den Parteiapparat zu erneuern. Große Teile des Parteiapparates seien verbürokratisiert. Diese hätten versucht, „die Poli-

tik der Partlei nicht mit den Massen und als deren Diener, sondern ohne Massen und als deren Vormund durchzuführen“. Es gebe „die vielen 1. Sekretäre bei uns, denen es schon schmeichelt, gefürchtet zu werden, die vielen Speichellecker, die nach unten die Methoden weitergeben, denen sie von oben ausgesetzt sind“. Geradezu weitsichtig heißt es dann weiter, wenn die Partei nicht die Demokratisierung beginne, werden die Massen entschlossen sein, „gegen die Partei aufzutreten, wenn die Überwindung der Schwächen trotz vorliegender günstiger Umstände ein neues Mal nicht zielbewußt in Angriff genommen wird“.

Diese hastig verfaßten, mit hei-ßer Nadel gestrickten Sätze Herrnstadts wurden jedoch auf einer Politbürositzung Anfang Juli verworfen. Das Kräfteverhältnis in der KPdSU-Führung hatte gewechselt. Statt der Demokratisierung in der SED Raum zu geben, wurden nunmehr im Gegenteil die Zügel wieder fester angezogen. Die 15. ZK-Tagung der SED, die vom 24. bis 26. Juli

1953 tagte, zog dementsprechend einen deutlichen Schlußstrich: „Die Generallinie war und bleibt richtig.“ Dies geschah zwar unter dem Schlagwort „Neuer Kurs“, doch dieser wurde nunmehr seines ursprünglichen Kerns beraubt. Erneut war die Partei Vormund, nicht Diener; alle eingeleiteten Maßnahmen zur Verbesserung des innergesellschaftlichen Klimas wurden nach und nach wieder abgebaut. Nicht die Partei – so fortan, die offizielle Lesart – hatte Fehler begangen, vielmehr habe in der DDR eine „faschistische Untergrundbewegung“ auf den „Tag X“ hingearbeitet.

Das Programm zur Demokratisierung der Partei wurde jetzt ausschließlich Rudolf Herrnstadt und dem Minister für Staatssicherheit, Wilhelm Zaisser, zugeschrieben und als „kapitulantenhaftes Verhalten“ bewertet. Beide wurden dann „wegen parteifeindlicher fraktioneller Tätigkeit, die die Einheit und Reinheit der Partei bedrohte“, aus der SED ausgeschlossen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal
Mehr aus: