Das Gesetz der Ökonomie
Krise und Marx: Was einem bei der jetzt herrschenden Wirtschaftslage so in den Sinn kommt
Die gegenwärtige zyklische kapitalistische Wirtschaftskrise hält sich hartnäckig, die Massenarbeitslosigkeit ist chronisch geworden. Statt des immer wieder angekündigten Aufschwungs erleben wir neue Wellen dieser Krise. Selbstverständlich wird auch sie durch einen Aufschwung abgelöst werden, so wie dann wieder die Hochkonjunktur von einer neuen Krise. Einer der fünf so genannten Wirtschaftsweisen der Bundesrepublik, Horst Siebert, schrieb in seinem jüngsten Buch von einem Kobra-Effekt. Damit ist Bezug genommen auf jene Praxis früherer englischer Kolonialherren in Indien, pro abgeliefertem Kobra-Kopf eine Prämie zu zahlen. So wurde man aber nicht der Kobra-Plage Herr, sondern die Züchtung dieser Schlangen wurde gefördert. Anknüpfend an Arbeiten von Wirtschaftswissenschaftlern über die asymmetrisch verteilten Informationen der Marktteilnehmer, z.B. der Nobelpreisträger 2001, schlussfolgert Siebert, dass der Staat nicht ahnen kann, wie das Ausweichpotenzial aller Marktteilnehmer in der Volkswirtschaft aussieht.
Damit sind nicht die Wirtschaftskrisen erklärt, wohl aber, dass die Handlungen der Menschen in der Wirtschaft durch außerhalb ihres Bewusstseins wirkende ökonomische Gesetze bestimmt werden. Sie gehören seit langer Zeit zum Forschungsgegenstand der Wirtschaftswissenschaft, auch wenn sie zeitweilig bei der so genannten Moderne in Verruf gerieten. Allerdings beschränkte und beschränkt sich die Forschung sehr stark auf Zirkulation und Konsumtion, wie etwa das Gesetz von Angebot und Nachfrage (oder Gesetz der abnehmenden Nachfrage, wie es US-Ökonom Samuelson nennt).
Es war Karl Marx, der mit der Entdeckung des Mehrwertgesetzes (Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser Produktionsweise), dem zu folgen die Unternehmen bei Strafe ihres Untergangs gezwungen sind, und anderer ökonomischer Gesetze des Kapitalismus den - wie er es nannte - charakteristischen Lebenslauf der modernen Industrie, mit den seit 1825 periodisch wiederkehrenden Wirtschaftskrisen, erklären konnte.
Bei dem allgemeinen absoluten Gesetz der kapitalistischen Akkumulation (Zunahme von Reichtum bei wachsender industrieller Reservearmee und Armut), das den Widerspruch zwischen Produktion und Markt als eine Krisen-Ursache besonders betrifft, verwies Marx zugleich darauf, dieses Gesetz werde »gleich allen anderen Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert«. Damit ist gesagt, dass die Menschen den ökonomischen Gesetzen des Kapitalismus nicht alternativlos ausgeliefert sind, selbst wenn sie diese im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht außer Kraft setzen können.
Die von Marx angesprochene Modifikation des Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation ergibt sich daraus, dass Gewinn resp. Profit als Erscheinungsform des Mehrwerts auf unterschiedlichem Wege erzielt werden kann - einmal durch Innovationen, Qualitätsarbeit und Kundenfreundlichkeit, Cleverness bei Risikomanagement, Einsparung von Material, Energie, Arbeitszeit. Letztere muss keineswegs Entlassungen zur Folge haben, sondern kann durch Abbau von Überstunden und in der Perspektive durch die Verkürzung der Lebensarbeitszeit erfolgen.
Anders sieht es bei Gewinn aus, der auf Kosten von Beschäftigung und Ausbildung, durch Lohndumping, Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sowie Schädigung der Umwelt erzielt wird. Eine solche Ausbeutung von Mensch und Natur verletzt die in Art. 14 Grundgesetz gebotene Sozialpflicht des Eigentums.
Für beide Wege kennt die Geschichte Beispiele. So erfolgte der Aufschwung nach der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932 in den USA nach dem Rooseveltschen New Deal, in Deutschland und Italien durch Militarisierung und Kriegsvorbereitung. Göring forderte denn auch 1936 zynisch »Kanonen statt Butter«. Die Folgen sind bekannt. Dabei war durch die faschistische Herrschaft allerdings der Kapitalismus im Bewusstsein vieler Menschen so diskreditiert, dass nach dem Sieg der Antihitlerkoalition nicht nur in Osteuropa die Dominanz des privatkapitalistischen Eigentums an den Produktionsmitteln in Frage gestellt wurde.
Es sei an umfangreiche Nationalisierungen in Großbritannien, Frankreich, Italien und Österreich oder den Ausbau des staatlichen Sektors in Nordeuropa erinnert. Nicht nur im sowjetisch besetzten Sachsen, sondern auch im US-amerikanisch besetzten Hessen votierte 1946 die Mehrheit der Bürger für die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher bzw. die Überführung von Monopolunternehmen der Grundstoffindustrie in Gemeineigentum. Selbst die CDU forderte in ihrem Ahlener Programm 1947 die Verstaatlichung von Bergbau, Stahl und anderer Großbetriebe.
Angesichts dieser Situation war deutlich geworden, dass nur durch eine Umverteilung von Mehrwert resp. Profit zu Gunsten der lohnabhängig Beschäftigten privates Kapitaleigentum gerettet werden konnte. Das Ergebnis dieser auf soziale Marktwirtschaft gerichteten Politik war ein beträchtliches Wirtschaftswachstum bei spürbarer Erhöhung des Volkswohlstandes und nahezu Vollbeschäftigung. Die zyklische Entwicklung der Wirtschaft als Ergebnis des Wirkens ökonomischer Gesetze wurde nicht außer Kraft gesetzt, aber die periodisch wiederkehrenden Krisen waren zeitweilig so schwach, dass sie kaum vom Alltagsbewusstsein der Menschen wahrgenommen wurden.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Scheitern sozialistischer Alternativen in anderen Ländern Europas wurde zügelloses Profitstreben bei gewagten Finanzspekulationen und Bilanzmanipulationen wieder hoffähig - mit dem Ergebnis, dass die jüngste zyklische Krise eine besondere Schärfe erlangte. Dennoch machen die Spitzen der deutschen Arbeitgeberverbände kein Hehl aus ihrer Absicht, Massenarbeitslosigkeit, Armut und Globalisierung für Sozialabbau und Lohndumping großen Stils auszunutzen, Beschäftigte gegen Arbeitslose, Einheimische gegen Migranten auszuspielen. Sie wettern gegen Tariftreue, Kündigungsschutz und überhaupt gegen soziale Verantwortung des Staates, so als wären nicht gerade, wie der Hamburger Ökonom Afheldt hervorhebt, »von Bismarck 1879 bis Roosevelt 1933 durch staatliche Eingriffe Nationalökonomien aus Katastrophen herausgeführt worden«.
Wie Politik eine zyklische Krise weiter verschärfen kann, zeigt auch EU-Agrarkommissar Fischler, der mit seiner Infragestellung der Agenda 2000 lange vor ihrem Ablauf die Bauern unnötig verunsichert. Die aus ideologischen Vorurteilen entsprungenen Vorschläge des Kommissars gegen die in freier bäuerlicher Selbstbestimmung beibehaltenen wettbewerbsfähigen Agrarstrukturen im Osten Deutschlands haben deshalb zu Recht einen Partei übergreifenden Widerstand der Ressortchefs in den neuen Ländern hervorgerufen, dem sich die Bundespolitik anschließen müsste.
Nachtrag: Wenn Siebert in seinem oben erwähnten jüngsten Buch behauptet, dass »nirgendwo geschrieben steht, dass die einmal erreichte Realeinkommensposition einer Volkswirtschaft auf immer und ewig gehalten wird«, so veranlasst er zum Nachdenken darüber, dass manches, was die damalige politische Ökonomie des Sozialismus bei der Untersuchung eines ökonomischen Grundgesetzes des Sozialismus im Zusammenhang mit dem Gesetz der wachsenden Bedürfnisse abhandelte, so falsch nicht war.
Der Hinweis, dass, von Kriegen und Naturkatastrophen abgesehen, das erreichte Lebensniveau der Bevölkerung der sozial gesicherte Ausgangspunkt seiner weiteren Erhöhung sein müsste (natürlich in Abhängigkeit von der Produktivitätsentwicklung), wurde leider von den Verantwortlichen in der Sowjetunion und ihren Verbündeten trotz der Herausforderungen der sozialen Marktwirtschaft nicht ernst genommen. Das erreichte militärische Gleichgewicht wurde nicht mit der notwendigen Konsequenz für einen Aufschwung in Produktivität und Volkswohlstand genutzt - vom Wagnis nach mehr Demokratie und Reisefreiheit ganz zu schweigen. So entartete der ...
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