Was könnte sich der unbekannte Redakteur der Frankfurter Rundschau dabei gedacht haben, als er einen Bericht über ein äußerst hart geführtes Fußballmatch mit der Überschrift schmückte: »Spaßgesellschaft auf Abwegen«? Nichts. Wahrscheinlich absolut nichts. Nicht minder unüberlegt ging es Ende Februar 2002 im Berliner »Tagesspiegel« zu, da Jean-Paul Sartres altehrwürdige »geschlossene Gesellschaft« - halb kalauernd, halb komatös - diejenige des »Hallenfußballs« gewesen sein sollte, während die hauptstädtische CDU simultan beschloss, die eigenen Reihen zu reformieren und »Schluss mit der geschlossenen Gesellschaft« zu machen.
Schluss machen mit dem Alten, ein Neues anstoßen - wann immer größere oder geringfügigere Veränderungen oder die Paradigmenwechsel auf der Tagesordnung des öffentlichen Lebens stehen oder lediglich irgendein Trend ausgeschrien sein möchte: Ohne einen so plakativen und unterdessen leeren, nichtssagenden Begriff wie jenen der »Gesellschaft« läuft nichts mehr, und kein dienendes Beiwort scheint es zu geben, das sich nicht in die lästige, ja lausige Verbindung zur »Gesellschaft« bringen ließe. »Das gesellschaftliche Leben im neuen Berlin ist organisiert wie in Entenhausen«, betitelte der »Tagesspiegel« eine »Gesellschaftsanalyse« des Mitte-Milieus der Berliner Republik in Analogie zu Dagobert Ducks Walt-Disney-Geldreich - man glaubte es gern. Nur: Die Beschränkung auf Berlin ist unstatthaft. Quer durch die westliche Welt schnattert und schnabelt es ohne Limits, die »Gesellschaft« in jedem berufenen Munde.
Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle z.B. nobilitiert via Homepage seine ruhmreiche Truppe zur »Freiheitspartei in der Verantwortungsgesellschaft«, um stante pede ein Beschleunigungsprogramm für die »mobile Gesellschaft« zu fordern, heißt: noch zügigeres Autofahren in der Staugesellschaft. Im Windschatten der Konjunktur des Bindestrichgequatsches rund um die »Generation« (»Generation Golf« etc.) und die »Kultur« (»Wurstkultur«, »Aktienkultur« usf., zuletzt anlässlich des Todes der Astrid Lindgren, unkte der Medienkritiker Georg Seeßlen gar von einer »Kinderkultur«) hat das »Gesellschafts«-Mixtum-compositum eine rasante Karriere absolviert. Ein ehedem recht präziser, von der Soziologie geprägter und in den sechziger, siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu weit reichender Bedeutung gelangter Begriff ist nun vollends auf den Hund gekommen. Die wegen Milzbrand- und ähnlichen Terrorgefahren »alarmierte Gesellschaft« befindet sich in einem permanenten semantischen, definitorischen Alarmzustand. Nicht allein die fast prädestinierte Gesellschaftspresse und das Yellow TV, sondern auch die Feuilletons berauschen sich an der besinnungslosen Bildung diverser und längst unüberschaubarer »Gesellschaften«. Jürgen Habermas' zwanzig Jahre alte Diagnose der »Neuen Unübersichtlichkeit«, sie erlangt dieser Tage plastische Plausibilität.
Bei Theodor W. Adorno und dessen Schülern wurde der Begriff »Gesellschaft«, ein genuines philosophisches Konzept des bürgerlichen Zeitalters, zum Zentrum der Sozialwissenschaften bestimmt. Er bezeichnete mal ein dialektisches Verhältnis von Produktion und Sozialisation, dem das Versprechen auf ein Mehr an Freiheit und Individuation immanent sei, mal einen kulturindustriell hergestellten Verblendungszusammenhang, der den einzelnen zur Affirmation des Bestehenden animiere. Wer »Gesellschaft« sagte, meinte das konkrete »Netz der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen«, die von ihnen willentlich oder unwillentlich gestaltete sozial-politische Wirklichkeit.
Bereits 1961, auf einer Tagung der Gesellschaft für Soziologie, schleuderte jedoch Sir Karl Popper die schon 1957 buchamtlich niedergelegte »offene Gesellschaft« der Gesellschaft entgegen, die, beispielgebend für Tausende andere »Gesellschaften«, bis hinein in die Kanzler-SPD des Helmut Schmidt reüssierte, begleitet von der »formierten Gesellschaft« und »uniformierte Gesellschaft«. Ab den späten Siebzigern und den Achtzigern war dann kein Halten mehr. Die Gewerkschaften warfen die »Zweidrittelgesellschaft« oder wahlweise die »Zwei-Klassen-Gesellschaft«, die alternativ-ökologischen Bataillone noch konsequenter die »Wegwerfgesellschaft« in die Runde. Aus der deskriptiven »Industriegesellschaft« ward die moralisch aufgeladene und -geregte »Anspruchsgesellschaft«, und derweil man hie die »multikulturelle Gesellschaft« und die »pluralistische Gesellschaft« von der Leine ließ, erspähten die postmodernen Auguren da die »Kulturgesellschaft«, ein Pendant zur »postindustriellen Gesellschaft« (Norbert Bolz), welche die »Kommunikationsgesellschaft« (Richard Münch) antizipierte. Mitte der Neunziger gewann die so genannte Poplinke um Diedrich Diederichsen an Kraft und Fahrt und erweiterte die »Kontrollgesellschaft« des Poststrukturalisten Gilles Deleuze zur »Disziplinargesellschaft« (so die Rezension einer Lou-Reed-Platte in spex).
Den Startschuss hatte 1986 Ulrich Becks Buch Risikogesellschaft abgefeuert, das - laut Untertitel - »auf dem Weg in eine andere Moderne« mit der »industriegesellschaftlichen Moderne« die »Arbeitsgesellschaf« begrub (wegen eines »radikalen Kontinuitätsbruchs«) und eine »reflexive Modernisierung« der risikofreudigen Individuen anberaumte, die sich zur »Leistungsgesellschaft« bekennen und Becks neue Suhrkamp-Soziologiereihe »Zweite Moderne« kaufen sollten. Sie konvertierten indes lieber zu Gerhard Schulzes neuerungssüchtiger »Erlebnisgesellschaft« (z.Zt. dito unterm Label »Ereignisgesellschaft« bzw. »Eventgesellschaft« oder »Entertainmentgesellschaft«), um einerseits »die Zahl der Bindestrichgesellschaften« im Rahmen der »gegenwärtigen Gesellschaftskulturen« (Internet-Rezensent, November 2000) zu mehren, andererseits ihre eigene Aufnahme »in die totale Erlebnisgesellschaft« (Goedart Palm, Soziologe) zu forcieren, wo sie der »Erlebnisirrationalität der polymorphen Unterhaltungskultur« und der parallelgeschalteten »Lifestyle-Kultur« frönen. Und zwar, weil, mit Schulze/Palm zu konstatieren, der »kategorische Imperativ der Erlebnisgesellschaft "Erlebe dein Leben"« den kantianischen Imperativ »der aufgeklärten Moralgesellschaft abgelöst haben soll«.
Was immer das heißen oder nicht heißen soll - sicher ist, dass der »Erlebnisimperativ« des »Erlebens zwischen Lebenslust und Lebensfrust« die »Erlebnisfabrikation« im »Kaleidoskop einer komplexen Weltgesellschaft« steuert, einer »offenen Weltgesellschaft« (George Soros, 1999), die Benjamin R. Barber, Professor für Zivilgesellschaft an der Universität Maryland (»Tagesspiegel«, September 2001), ebenso negativ beurteilt wie die verschiedene Marion Gräfin Dönhoff, die sehr an der »civil society« hing. Barber erörtert »die Grundfragen der demokratischen Gesellschaft« und ächtet den »postmodernen Kapitalismus« der Globalisierungsgesellschaft, vulgo die Zerstörung des bürgerlich-aufgeklärten Individuums, das auf der Basis des »Marktfundamentalismus« der »globalen Infantilisierung« anheimfalle und zum blinden und »polymorph-perversen« (H. Marcuse) Liebhaber der Konsumgesellschaft mutiere. Ähnlich kritisch angelegt war, unterm Dachbegriff von Neil Postmans »Mediengesellschaft«, die »Informationsgesellschaft« des britischen Soziologen Scott Lash.
»In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?« fragte der Hamburger Philosoph und Adorno-Eleve Herbert Schnädelbach Mitte November 2000 - und antwortete: »Wir leben in einer Bindestrich-Gesellschaft«; in einer Gesellschaft, in der die Bindestrichgesellschaften, respektive die Bindestrichgesellschaftsbegriffe, den Begriff der Gesellschaft verdrängt haben. Unter der »Kruste der verdinglichten Meinungen« (Adorno: Meinung Wahn Gesellschaft, 1960) wächst der Schwamm der weichen Nullbegriffe, wuchern die »Multioptionsgesellschaft«, die »Werbegesellschaft« und die »Hightech-Gesellschaft« (Jürgen Wertheimer), die »Wattebauschgesellschaft« (BamS, 5. Mai 2002), die islamische »Parallelgesellschaft« (»Spiegel«), die »postsäkulare Gesellschaft« (Habermas, 2001), die »Singlegesellschaft«, die »Sensationsgesellschaft« (Christoph Türke», DIE ZEIT« 35/1994), die »Aufstiegsgesellschaft« (3sat-Kulturzeit, 29. April 2002), die »Bildungsgesellschaft«, Bertelsmanns »Bürgergesellschaft«, Schnädelbachs »funktional differenzierte Gesellschaft« und Oskar Negts »Tätigkeitsgesellschaft« (2001) als späte Reduktionsreaktion auf Ralf Dahrendorfs »Arbeitstätigkeitsgesellschaft«.
Hier verfluchen Jürgen Wertheimer und Peter V. Zima die »Infantilisierung in der Fun-Gesellschaft«, hier beäugt Thomas Assheuer Peter Sloterdijks Vision einer »biopolitisch beruhigten Klassengesellschaft« und der Freizeitprofessor Horst Opaschowski die doppelt schöne »Spaß- und Sinngesellschaft« im Kontrast zu »Hochleistungsgesellschaft«. Hier begrüßt DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder das »Bekenntnis zur multi-ethnischen Gesellschaft« und lässt der Journalist Eric Schlosser die »Fast-Food-Gesellschaft« abdanken, hier verhandelt Norbert Blüm die Krise der »Erwerbsgesellschaft«, hier erwägt Roland Koch (CDU) die »Chancengesellschaft« und propagiert Angela Merkel die volksgemeinschaftliche »Wir-Gesellschaft«, eine »Ein-Boot-Gesellschaft«. Hier skizziert Franz Müntefering (SPD) die »humane Gesellschaft« und porträtiert Peter Glotz (SPD) »die digitale Ökonomie der so genannten Wissensgesellschaft«, bis die multipel schizoide Gesellschaft offenbar nicht mehr weiß, was sie alles zusammenredet in ihren Partialbereichen, in der »deformierten Gesellschaft« (Meinhard Miegel, 2002).
Täglich Neues meldet die »journalistische Gesellschaft« (Karl Kraus). Eine solche »höhenstaplerische Gesellschaft« (Karl Kraus) verlangt final nach der »Boris-Becker-Gesellschaft«, flankiert von der »Ludergesellschaft« und der Formel-1-begeisterten »Vollgasgesellschaft«, die der ORF anlässlich der Salzburger Premiere von Sabine Derflingers Kinofilm »Vollgas« erfand. Also, volles Rohr durchstarten.
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen.
Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf
www.dasnd.de/genossenschaft