Die polnische Schwiegertochter

Westlich und östlich der Neiße verbinden sich mit der EU-Erweiterung Hoffnungen und Ängste

  • Detlef D. Pries
  • Lesedauer: ca. 7.0 Min.

Das schönste Görlitz-Panorama mit der Peterskirche, dem alten Waidhaus und den renovierten Häusern am Neiße-Ufer bietet sich dem Betrachter von jenseits des Flusses - von Zgorzelec aus, dem »polnischen Teil der Stadt«, wie es heute oft heißt. Schließlich haben sich Görlitz und Zgorzelec 1998 gemeinsam zur Europastadt erklärt und 2010 wollen sie gar Europas Kulturhauptstadt werden.

Vorerst trennt sie allerdings noch eine Grenze. Und das, so Oberbürgermeister Prof. Dr. Rolf Karbaum, ist »nicht nur« - wie ehedem, meint er - die Grenze zwischen zwei sozialistischen Bruderländern, nicht nur eine Sprach- und Kulturgrenze, sondern eine EU-Außengrenze. Das klingt, als sei dies die höchste aller denkbaren Hürden. Zgorzelecs Vizebürgermeister Ireneusz Aniszkiewicz beschwichtigt: Die Grenze trenne nicht - aber sie erschwere das Miteinander. Das soll sich am 1. Mai 2004 ändern, wenn Polen EU-Mitglied wird. Ein Ereignis, das auf beiden Seiten mit Hoffnungen, aber auch mit Ängsten verbunden wird.

»Nur vom Tourismus kann Görlitz nicht leben«

Hoffnung zu verbreiten, betrachtet Prof. Karbaum als seinen Job. Einfach ist der aber offenbar nicht. Der OB freut sich zwar, wenn er aus seinem Rathausfenster die vielen Touristen auf dem Untermarkt beobachtet, die sich an prachtvollen Bauten aus Görlitzer Blütezeiten als Handels- und Tuchmacherstadt satt sehen können. Viele Millionen haben Bund, Land, Stadt und Denkmalschützer in die Restaurierung der Altstadt gesteckt. Der rätselhafte anonyme Spender, der die Sanierung seit 1994 Jahr für Jahr mit einer Million Mark (oder 511000 Euro) fördert, sei nicht vergessen. Die schönste Stadt Deutschlands hat Prof. Gottfried Kiesow, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, Görlitz genannt - sicherlich nicht nur um der Ehrenbürgerschaft willen, die ihm inzwischen verliehen worden ist.
Nur kann man von Schönheit und Tourismus allein nicht leben, gibt der Oberbürgermeister zu: Jährlich verlassen mehr als 1000 Görlitzer ihre Heimatstadt, die Einwohnerzahl fiel im letzten Jahrzehnt trotz Vergrößerung des Stadtgebiets von 72- auf 62000, wodurch das Durchschnittsalter der Görlitzer »dramatisch« auf 44 Jahre kletterte. Der Grund: Der Anteil der Arbeitslosen will nicht mehr unter die 20-Prozent-Marke sinken. So stehen bis zu 40 Prozent der Wohnungen im »Stein gewordenen Geschichtsbuch« leer, weit mehr als in den Plattenbauten aus DDR-Zeiten. Wie zur Bestätigung jener Oberlehrer, die über ostdeutsche Kulturlosigkeit dozieren, weiß Karbaum denn auch von »tumultartigen Zusammenkünften« mit Plattenbaubewohnern zu berichten, die im wütenden Ausruf gipfelten, bevor man ihre Wohngebiete »zurückbaue«, solle man lieber die Altstadt abreißen.
Kollege Aniszkiewicz vom anderen Neiße-Ufer kennt die Lösung des Problems: Die leeren Wohnungen könnten an Polen vermietet werden, denn in Zgorzelec, dessen Grenznähe im Nachbarland anziehend wirkt, herrsche Wohnraummangel. 100 bis 150 polnische Mieter gibt es wohl schon in Görlitz, aber wenn Polen erst in der EU sei und die bürokratischen Hürden fielen, könnten es wesentlich mehr werden. Vorausgesetzt, die Mieten werden gesenkt, denn die wären für die meisten von Aniszkiewiczs Landsleuten schlicht unbezahlbar. Ist nicht die Angst vor binnen kurzem unbezahlbaren Mieten auch für Görlitzer Plattenbaubewohner ein Grund, den Umzug ins Zentrum zu scheuen?

Wahnvorstellungen eines Wessis?

Die Vision des Zusammenlebens von Deutschen und Polen in einer ungeteilten Stadt unter einheitlicher Verwaltung bei Wahrung kultureller Eigenheiten teilt auch Professor Karbaum, doch sieht er die Zukunft nicht ganz so optimistisch. Das Gefälle bei Löhnen und Lebensstandard, die Konkurrenz im Kampf um Arbeitsplätze Immerhin: Görlitz wird demnächst nicht mehr am Rande, sondern mitten in der EU liegen. Die Zusammenarbeit von Unternehmen diesseits und jenseits der Neiße wird nicht mehr durch umständliche Grenzabfertigungen behindert, auf beiden Seiten hofft man auf neue Märkte.
Warum sich Investoren, die neue Arbeitsplätze schaffen könnten, gerade hier ansiedeln sollten, statt gleich weiter gen Osten zu ziehen, wo die Arbeitskräfte immer noch »billiger« sind und noch größere Märkte locken, das wissen indes weder Aniszkiewicz noch Karbaum zu sagen. »Es passiert viel zu wenig«, um die Stadt und ihre Bewohner auf den Mai 2004 vorzubereiten, gibt der Görlitzer Oberbürgermeister zu. »Vieles liegt außerhalb unserer Kompetenz, da sind wir Rufer in der Wüste. Und das Kopf-in-den-Sand-Stecken ist weit verbreitet.«
Im deutsch-polnischen Kindergarten von Görlitz immerhin bereitet man sich vor: Zwölf Mädchen und Jungen aus Zgorzelec kommen täglich ins »Zwergenhaus«, um im Spiel mit ihren deutschen Altersgefährten deren Sprache zu lernen. Die Zahl ist streng begrenzt, denn deutsche Eltern zahlen für ihr Kind 96 Euro im Monat, polnische - wie in Zgorzelec - nur 30. Die Differenz gleicht Sachsens Staatskasse aus. »Zwergenhaus«-Leiterin Martina Rissmann weiß, dass »drüben« 25 polnische Kinder auf der Warteliste stehen. Dort könnten übrigens zwölf deutsche Kinder einen polnischen Kindergarten besuchen. Aber derzeit sind es nur drei. »Vielleicht wissen zu wenige von dieser Möglichkeit«, vermutet Frau Rissmann.
Dr. Michael Wieler, Intendant des Görlitzer Theaters, ahnt andere Gründe. Der gebürtige Rheinländer sieht in der Stadt, die wieder als ein Ganzes funktionieren sollte, »eigentlich einen wunderbaren Lebensraum«. Sein Haus, auch historisch das Theater der ganzen Stadt, bietet einmal monatlich polnischsprachiges Schauspiel für die Bewohner von Zgorzelec (zu »polnischen Preisen«) und für polnisch lernende Görlitzer an. Mimen und Techniker aus Jelenia Góra fühlten sich schon wie zu Hause, versichert deren Managerin Maria Adamczyk, und die Zuschauerzahl wachse. Also wächst da doch etwas zusammen? »Sehr langsam«, glaubt Dr. Wieler. Offenbar könnten manche Görlitzer - der Intendant spricht von der »Friedensgrenze-Generation« - nicht vergessen, dass ihnen die Zgorzelcer einst die Gurken vor der Nase weggekauft haben. Als er einmal die Idee geäußert habe, dass Görlitz dereinst einen polnischen Oberbürgermeister haben könnte, seien ihm »Wahnvorstellungen eines entwurzelten Wessis« vorgeworfen worden. Das scheint Wieler gerne zu erzählen. Dass er solches Denken einer ganzen Generation unterstellt, wird Verbitterung und Trotz, erwachsen aus »nachwendischen« Erfahrungen mit der Entwertung von Lebensleistungen und der Missachtung von Wissen und Fähigkeiten, allerdings nicht abbauen helfen.
Zeit zur Grenzüberschreitung! Über die Neiße-Brücke, vorbei am Kulturhaus von Zgorzelec, dessen Vergangenheit als »Schlesische Ruhmeshalle« erwähnt wird. Dass dort 1950 das Abkommen über die Oder-Neiße-Grenze unterzeichnet wurde, ohne deren Anerkennung weder die »Osterweiterung« der Bundesrepublik 1990 noch die der EU 2004 denkbar wäre, erfährt man auch - auf Nachfrage.
Ein paar Kilometer von Zgorzelec entfernt liegt Lomnica, ein Dorf mit drei Bauernhöfen und einer agrarwirtschaftlichen Aktiengesellschaft, einer ehemaligen LPG, von der Kazimierz Szczech nicht viel hält (»Leute aus der Stadt, die keine Ahnung haben«). Szczech, 47 Jahre alt, bewirtschaftet mit seiner Frau Tereza und der Familie eines seiner drei Söhne 150 Hektar Land - das Existenzminimum, wie er glaubt. Im Hof steht ein nagelneuer Massey-Ferguson-Traktor für umgerechnet 50000 Euro, natürlich auf Kredit gekauft - Szczechs Investition zur Vorbereitung auf den EU-Beitritt. »Wir sind alle verschuldet und arbeiten eigentlich nur, um unsere Schulden abzuzahlen«, sagt der schnauzbärtige Landwirt. »Offiziell gibt es in Polen rund 2,5 Millionen landwirtschaftliche Betriebe, überleben wird vielleicht ein Viertel. Das werden die sein, die sich verbinden, die Land dazukaufen.« Er selbst glaubt selbstbewusst, auch in der EU überstehen zu können. Zurzeit werde der einheimische Markt von Importen überschwemmt, die es den Bauern schwer machten, ihre Produkte zu verkaufen. »Vielleicht schafft ja die EU, was unsere Regierung nicht zustande bringt: den Markt zu regeln. Wenn ich von Brüssel eine bestimmte Quote bekomme, habe ich wenigstens die Gewissheit, dass ich so und so viel Weizen vom Hektar verkaufen kann.« Und immerhin sei der Boden hier noch nicht so verseucht wie im Westen.

In die EU - aber nicht auf den Knien!

Kazimierz Szczech ist Mitglied der »Samoobrona« (Selbstverteidigung) Andrzej Leppers, der Straßenblockaden organisierte, um gegen die Überflutung des Agrarmarktes mit Billigimporten zu protestieren und auf die Notlage der Bauern aufmerksam zu machen. Er sei vielleicht nicht so radikal wie Lepper, meint Szczech, aber ähnliche Aktionen will er für die Zukunft nicht ausschließen. Auch Lepper sei nie gegen den EU-Beitritt gewesen, er habe nur stets betont: Nicht auf den Knien! »Wenn eine Schwiegertochter in die Bauernfamilie kommt, möchte sie ja schließlich auch gleichberechtigt sein. Wir polnischen Bauern sind das eben nicht, wenn wir nur ein Viertel der Beihilfen bekommen, die unsere Berufskollegen in den alten EU-Staaten erhalten. Das ist es, womit wir unzufrieden sind.«
Dr. Dietmar Liebscher, Referent des sächsischen Landesbauernverbandes, kann solche Unzufriedenheit verstehen. In der als effektiv angesehenen Landwirtschaft der DDR seien gerade noch ein Fünftel der Arbeitsplätze übrig geblieben. Den EU-Standards gerecht zu werden, habe die sächsischen Bauern »unheimlich viel Geld gekostet«. Die Polen würden das Geld gewiss ebenso brauchen, »und da kann ich mir gut vorstellen, dass das mit einem Viertel der Beihilfen nicht klappt«. Der Anbau von Weizen, rechnet Liebscher vor, wäre in diesem Jahr ohne die vollen EU-Beihilfen nicht kostendeckend gewesen. »Und wenn dann auch noch Weizen aus Polen und Tschechien auf den EU-Markt kommt ...«
Berechnet und geregelt hat das noch niemand. Aber: »Nie ma alternatywa«, sagt Kazimierz Szczech in Lomnica. Und Oberbürgermeister Prof. Rolf Karbaum sagt das gleiche auf Deutsch: »Es gibt keine Alternative.« Und Gewissheit gibt es auch nicht, also bleibt den Optimi...

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