Plante Stalin einen Genozid?
13. Januar 1953: »Prawda« kündigt einen Ärzte-Prozess an
Der Prager Schauprozess gegen Slansky & Genossen 1952 war nur ein Vorspiel. Josef W. Stalin hatte eine weitere Säuberungswelle in der UdSSR im Visier. Aus dem engsten Führungskreis verdrängte er nicht nur Veteranen aus Lenins Zeiten, so Andrejew und Mikojan, sondern auch Außenminister Molotow, Marschall Woroschilow und seinen Sekretär Poskrebyschew. Dokumente einer Tagung des ZK der KPdSU vom 16. Oktober 1952 lassen den Schluss zu, dass er Molotow und Woroschilow als »Agenten des anglo-amerikanischen Geheimdienstes« verdächtigte.Auch der Stellvertretende Ministerpräsident Berija sollte durch Entlarvung einer »Verschwörergruppe« in dessen georgischer Heimat Mingrelien zu Fall gebracht werden. Doch nicht allein die Führungsspitze wollte Stalin »bereinigt« wissen.
Sündenböcke wurden gesucht
Bereits im Sommer 1951 war KGB-Chef Abakumow verhaftet worden, weil er die Gefahr des »Weltzionismus« unterschätzt habe. Sein Nachfolger Ignatew unterstand nun direkt Stalin und dessen Stellvertreter in der Parteihierarchie Malenkow. Jetzt begann auch - hinter verschlossenen Türen - ein Prozess gegen das bereits Ende 1948 aufgelöste Jüdische Antifaschistische Komitee (JAK), das in Kriegszeiten zur Unterstützung des Kampfes der Sowjetunion gegen Nazideutschland gebildet worden war. 110 Sowjetpolitiker, Dichter, Ärzte, Theaterleute, Wissenschaftler und Journalisten jüdischer Herkunft wurden »westlicher« Spionage angeklagt, dreizehn der Angeklagten am 12. August 1952 erschossen.
Unverkennbar auch für den alternden Despot war die neuerliche Krise seines Herrschaftssystems. Sündenböcke mussten gefunden werden - und wurden nach »bewährter« Methode unter den »Zionisten« und »jüdischen Nationalisten« ausgemacht. Eine »zionistische Verschwörung« wurde konstruiert. Als Anlass diente ein lange zurückliegender Vorfall im Kreml-Krankenhaus. Die Assistenzärztin Timaschuk hatte am 28. August 1948 ein Elektrokardiogramm von Ideologiesekretär Shdanow gemacht und ihre Vorgesetzten informiert, dass dieser einen Herzinfarkt erlitten habe. Das Konsilium der Professoren Jegorow, Winogradow und Wassilenko sowie der Doktoren Majorow und Sofia Karpai, beide jüdischer Herkunft, akzeptierte die Diagnose nicht. Die Mediziner informierten den Chef der Leibwache des Kremlherrn, General Wlassik. Stalin nahm deren Brief lediglich zur Kenntnis. Shdanow starb zwei Tage darauf.
Vier Jahre später erinnerte sich Stalin des Briefes - ein willkommener »Beweis«. Das Ärzteteam, das für Shdanows Behandlung zuständig gewesen war, sowie weitere Leibärzte der Nomenklatura wurden im Herbst 1952 verhaftet. Am 4. Dezember 1952 entschied das ZK der KPdSU, den gesamten medizinischen Bereich und die Sicherheitsorgane zu säubern. Am 13. Januar 1953 vermeldete TASS eine vom ZK-Präsidium bestätigte Erklärung über eine angebliche Ärzteverschwörung. 28 Ärzte jüdischer Herkunft und neun ihrer Angehörigen wurden beschuldigt, »durch medizinische Behandlung und Sabotage das Leben aktiver öffentlicher Persönlichkeiten der Sowjetunion zu verkürzen«. Die »Mörder im weißen Kittel« hätten im Auftrag »anglo-amerikanischer Geheimdienste« und der »zionistischen Tarnorganisation« Joint gehandelt. Das American Jewish Joint Distribution Committee, in über 60 Ländern seit 1914 tätig, half bedrängten europäischen und palästinensischen Juden. Vor allem in den Jahren des Zweiten Weltkrieges hat dieses Komitee viele Menschenleben gerettet. Schon in den von Moskau initiierten Schauprozessen in Osteuropa avancierte es zur subversiven Macht.
Über Nacht wurde die Ärztin Timaschuk zum Vorbild für politische Wachsamkeit; sie erhielt den Leninorden. Der geplante Monsterprozess jedoch fand nicht statt. Allgemein wird angenommen, dass dieser durch Stalins Tod am 5. März 1953 vereitelt wurde. Einige Historiker, die sich nur auf Zeitzeugen verlassen, verbreiten noch immer die Ansicht, Stalin habe die »Mörderärzte« öffentlich auf dem Roten Platz hinrichten und die gesamte jüdische Bevölkerung der UdSSR nach Sibirien deportieren wollen. Hat der russische Diktator einen Genozid geplant, eine »Endlösung« wie die Nazis? Louis Rapoport (»Hammer, Sichel, Davidstern«) glaubt, dass Stalin die Sklavenheere in den Gulags »durch fast zwei Millionen Juden« ergänzen wollte. Da die Kampagne gegen die »jüdisch-zionistischen Spione« seit Mitte Februar 1953 abebbte, greift der Journalist zur nächsten Spekulation: Der Kremlherr sei schon nicht mehr an der Macht oder am Leben gewesen.
Sich an solchen Spekulationen zu beteiligen ist mehr als fragwürdig, und dies nicht nur, weil dadurch Hitlers Massenmord an den Juden relativiert wird. Zweifellos war Stalin ein brutaler, aber auch vorsichtiger Despot. Ein von ihm initiierter offener Brief an die Bevölkerung, der die »Zionisten« als Helfershelfer der Kapitalisten und Israel als US-Vorposten gegen die UdSSR brandmarkte, blieb unveröffentlicht, denn Lasar Kaganowitsch, das einzige noch verbliebene Politbüromitglied jüdischer Herkunft, und Ilja Ehrenburg rieten ab. Der Schriftsteller erklärte Ende Januar 1953 bei der Entgegennahme des Stalin-Friedenspreises: »Welches auch die nationale Herkunft des einen oder anderen Sowjetmenschen sein mag, er ist Patriot seines Vaterlandes, ein Gegner jeglicher nationaler und rassistischer Diskriminierung.« Auch die Rückkehr von Molotows Frau Polina aus der Verbannung signalisierte ein Einlenken Stalins.
Stalin war ein Machtmensch, kein Rassist oder fanatischer Antisemit wie Hitler. Er bediente sich des latenten Antisemitismus, so dies dem Erhalt seiner persönlichen Macht dienlich schien. Die UdSSR zählte zu den Geburtshelfern und ersten Verteidigern des 1948 gegründeten jüdischen Staates Israel - sicherlich auch in der Hoffnung auf eine neue Volksdemokratie im strategisch wichtigen Nahen Osten. Jedenfalls stand Moskau anfangs fest an der Seite Tel Avivs, im Gegensatz zu Großbritannien, das an seiner antizionistischen Kolonialpolitik festhielt, wie auch den USA, die sich anfangs auf arabischer Seite positionierten. Dank der von Stalin sanktionierten Militärhilfe Prags und der Zuwanderung von 300 000 osteuropäischen Juden konnte Israel 1948/49 arabischen Übergriffen widerstehen. Die Stimmen des sowjetischen und des polnischen Vertreters im Sicherheitsrat entschieden die Aufnahme Israels in die UNO 1949. Die UdSSR war nach der Tschechoslowakei der zweite Staat, der Israel anerkannte.
Nicht zu vergleichen mit NS-Antisemitismus
Stalin war allerdings doch recht erschrocken über den begeisterten Empfang der israelischen Botschafterin Golda Meyerson (Meir) in Moskau und die spontane Kundgebung von 50 000 Hauptstädtern zum jüdischen Neujahrsfest im Oktober 1948. Ein erstarkendes jüdisches Selbstbewusstsein war ihm nicht genehm. Er ließ jüdische Einrichtungen in der UdSSR schließen, das JAK auflösen und dessen Vorsitzenden Michoels 1948 ermorden.
Nach dem Wahlsieg der Rechtsozialisten Israels 1949 und mit Beginn der Normalisierung der Beziehungen zu den USA, die Tel Aviv einen Kredit von 100 Millionen Dollar gewährten, verschlechterte sich das Verhältnis der UdSSR zum jüdischen Staat. Als unbekannte Täter am 9. Februar 1953 ein Bombenattentat auf die sowjetische Botschaft in Tel Aviv verübt hatten, brach Moskau die diplomatischen Beziehungen ab. Man kann jedoch dem russischen Historiker Koryschenkow zustimmen: Einen Genozid an den Juden hatte Stalin nicht vor. Antisemitische Ausfälle unter seiner Herrschaft sind nicht gleichzusetzen mit dem mörderischen Judenhass der Nazis. Wer würde das antisemitische Klima der McCarthy-Zeit in den USA und den Mord an Ethel und Julius Rosenberg 1953 mit Auschwitz vergleichen?
Einen Tag nach den Beisetzungsfeierlichkeiten für Stalin ließ Berija, nun Innenminister und KGB-Chef, den Ärzte-Fall neu aufrollen und die zu Unrecht Verurteilten rehabilitieren. Lydia Timaschuk musste ihren Leninorden zurückgeben. 1955 wurde zwar das Urteil im JAK-Prozess intern aufgehoben, die Re...
Sündenböcke wurden gesucht
Bereits im Sommer 1951 war KGB-Chef Abakumow verhaftet worden, weil er die Gefahr des »Weltzionismus« unterschätzt habe. Sein Nachfolger Ignatew unterstand nun direkt Stalin und dessen Stellvertreter in der Parteihierarchie Malenkow. Jetzt begann auch - hinter verschlossenen Türen - ein Prozess gegen das bereits Ende 1948 aufgelöste Jüdische Antifaschistische Komitee (JAK), das in Kriegszeiten zur Unterstützung des Kampfes der Sowjetunion gegen Nazideutschland gebildet worden war. 110 Sowjetpolitiker, Dichter, Ärzte, Theaterleute, Wissenschaftler und Journalisten jüdischer Herkunft wurden »westlicher« Spionage angeklagt, dreizehn der Angeklagten am 12. August 1952 erschossen.
Unverkennbar auch für den alternden Despot war die neuerliche Krise seines Herrschaftssystems. Sündenböcke mussten gefunden werden - und wurden nach »bewährter« Methode unter den »Zionisten« und »jüdischen Nationalisten« ausgemacht. Eine »zionistische Verschwörung« wurde konstruiert. Als Anlass diente ein lange zurückliegender Vorfall im Kreml-Krankenhaus. Die Assistenzärztin Timaschuk hatte am 28. August 1948 ein Elektrokardiogramm von Ideologiesekretär Shdanow gemacht und ihre Vorgesetzten informiert, dass dieser einen Herzinfarkt erlitten habe. Das Konsilium der Professoren Jegorow, Winogradow und Wassilenko sowie der Doktoren Majorow und Sofia Karpai, beide jüdischer Herkunft, akzeptierte die Diagnose nicht. Die Mediziner informierten den Chef der Leibwache des Kremlherrn, General Wlassik. Stalin nahm deren Brief lediglich zur Kenntnis. Shdanow starb zwei Tage darauf.
Vier Jahre später erinnerte sich Stalin des Briefes - ein willkommener »Beweis«. Das Ärzteteam, das für Shdanows Behandlung zuständig gewesen war, sowie weitere Leibärzte der Nomenklatura wurden im Herbst 1952 verhaftet. Am 4. Dezember 1952 entschied das ZK der KPdSU, den gesamten medizinischen Bereich und die Sicherheitsorgane zu säubern. Am 13. Januar 1953 vermeldete TASS eine vom ZK-Präsidium bestätigte Erklärung über eine angebliche Ärzteverschwörung. 28 Ärzte jüdischer Herkunft und neun ihrer Angehörigen wurden beschuldigt, »durch medizinische Behandlung und Sabotage das Leben aktiver öffentlicher Persönlichkeiten der Sowjetunion zu verkürzen«. Die »Mörder im weißen Kittel« hätten im Auftrag »anglo-amerikanischer Geheimdienste« und der »zionistischen Tarnorganisation« Joint gehandelt. Das American Jewish Joint Distribution Committee, in über 60 Ländern seit 1914 tätig, half bedrängten europäischen und palästinensischen Juden. Vor allem in den Jahren des Zweiten Weltkrieges hat dieses Komitee viele Menschenleben gerettet. Schon in den von Moskau initiierten Schauprozessen in Osteuropa avancierte es zur subversiven Macht.
Über Nacht wurde die Ärztin Timaschuk zum Vorbild für politische Wachsamkeit; sie erhielt den Leninorden. Der geplante Monsterprozess jedoch fand nicht statt. Allgemein wird angenommen, dass dieser durch Stalins Tod am 5. März 1953 vereitelt wurde. Einige Historiker, die sich nur auf Zeitzeugen verlassen, verbreiten noch immer die Ansicht, Stalin habe die »Mörderärzte« öffentlich auf dem Roten Platz hinrichten und die gesamte jüdische Bevölkerung der UdSSR nach Sibirien deportieren wollen. Hat der russische Diktator einen Genozid geplant, eine »Endlösung« wie die Nazis? Louis Rapoport (»Hammer, Sichel, Davidstern«) glaubt, dass Stalin die Sklavenheere in den Gulags »durch fast zwei Millionen Juden« ergänzen wollte. Da die Kampagne gegen die »jüdisch-zionistischen Spione« seit Mitte Februar 1953 abebbte, greift der Journalist zur nächsten Spekulation: Der Kremlherr sei schon nicht mehr an der Macht oder am Leben gewesen.
Sich an solchen Spekulationen zu beteiligen ist mehr als fragwürdig, und dies nicht nur, weil dadurch Hitlers Massenmord an den Juden relativiert wird. Zweifellos war Stalin ein brutaler, aber auch vorsichtiger Despot. Ein von ihm initiierter offener Brief an die Bevölkerung, der die »Zionisten« als Helfershelfer der Kapitalisten und Israel als US-Vorposten gegen die UdSSR brandmarkte, blieb unveröffentlicht, denn Lasar Kaganowitsch, das einzige noch verbliebene Politbüromitglied jüdischer Herkunft, und Ilja Ehrenburg rieten ab. Der Schriftsteller erklärte Ende Januar 1953 bei der Entgegennahme des Stalin-Friedenspreises: »Welches auch die nationale Herkunft des einen oder anderen Sowjetmenschen sein mag, er ist Patriot seines Vaterlandes, ein Gegner jeglicher nationaler und rassistischer Diskriminierung.« Auch die Rückkehr von Molotows Frau Polina aus der Verbannung signalisierte ein Einlenken Stalins.
Stalin war ein Machtmensch, kein Rassist oder fanatischer Antisemit wie Hitler. Er bediente sich des latenten Antisemitismus, so dies dem Erhalt seiner persönlichen Macht dienlich schien. Die UdSSR zählte zu den Geburtshelfern und ersten Verteidigern des 1948 gegründeten jüdischen Staates Israel - sicherlich auch in der Hoffnung auf eine neue Volksdemokratie im strategisch wichtigen Nahen Osten. Jedenfalls stand Moskau anfangs fest an der Seite Tel Avivs, im Gegensatz zu Großbritannien, das an seiner antizionistischen Kolonialpolitik festhielt, wie auch den USA, die sich anfangs auf arabischer Seite positionierten. Dank der von Stalin sanktionierten Militärhilfe Prags und der Zuwanderung von 300 000 osteuropäischen Juden konnte Israel 1948/49 arabischen Übergriffen widerstehen. Die Stimmen des sowjetischen und des polnischen Vertreters im Sicherheitsrat entschieden die Aufnahme Israels in die UNO 1949. Die UdSSR war nach der Tschechoslowakei der zweite Staat, der Israel anerkannte.
Nicht zu vergleichen mit NS-Antisemitismus
Stalin war allerdings doch recht erschrocken über den begeisterten Empfang der israelischen Botschafterin Golda Meyerson (Meir) in Moskau und die spontane Kundgebung von 50 000 Hauptstädtern zum jüdischen Neujahrsfest im Oktober 1948. Ein erstarkendes jüdisches Selbstbewusstsein war ihm nicht genehm. Er ließ jüdische Einrichtungen in der UdSSR schließen, das JAK auflösen und dessen Vorsitzenden Michoels 1948 ermorden.
Nach dem Wahlsieg der Rechtsozialisten Israels 1949 und mit Beginn der Normalisierung der Beziehungen zu den USA, die Tel Aviv einen Kredit von 100 Millionen Dollar gewährten, verschlechterte sich das Verhältnis der UdSSR zum jüdischen Staat. Als unbekannte Täter am 9. Februar 1953 ein Bombenattentat auf die sowjetische Botschaft in Tel Aviv verübt hatten, brach Moskau die diplomatischen Beziehungen ab. Man kann jedoch dem russischen Historiker Koryschenkow zustimmen: Einen Genozid an den Juden hatte Stalin nicht vor. Antisemitische Ausfälle unter seiner Herrschaft sind nicht gleichzusetzen mit dem mörderischen Judenhass der Nazis. Wer würde das antisemitische Klima der McCarthy-Zeit in den USA und den Mord an Ethel und Julius Rosenberg 1953 mit Auschwitz vergleichen?
Einen Tag nach den Beisetzungsfeierlichkeiten für Stalin ließ Berija, nun Innenminister und KGB-Chef, den Ärzte-Fall neu aufrollen und die zu Unrecht Verurteilten rehabilitieren. Lydia Timaschuk musste ihren Leninorden zurückgeben. 1955 wurde zwar das Urteil im JAK-Prozess intern aufgehoben, die Re...
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